Pures Glück

Geh deinen Weg! Die große Wander-Serie auf Sandsteinblogger.de

Füße an einer Felskante

Wer die Welt sehen will, muss bloß mal die Schuhe ausziehen. So wie in der Kindheit, als die paar Schritte zum Bach noch eine echte Reise waren. Über ein kleines, unspektakuläres Abenteuer auf dem Schrammsteingratweg – das sich aber verdammt gut anfühlt.

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Nicht durch den Matsch! Diese Mutter aller Verkehrsregeln habe ich früh gelernt. Schon als kleines Kind. Sie wurde mir beigebracht, als ich noch kaum laufen, geschweige denn mir alleine die Schuhe zubinden konnte. Würde man all die Umwege aneinanderreihen, die ich für dieses Gebot in Kauf nehmen musste, käme bestimmt eine ausgewachsene Trekkingtour zusammen. Doch etwas in mir hat diese Ordnung nie ganz akzeptiert. Immer gab es eine Versuchung, vom sauberen Weg abzuweichen, eine Sehnsucht nach dem geheimnisvoll schillernden Glanz, der auf jedem Schlammloch lag. Pfützen hatten etwas wunderbar Aufmüpfiges, Vulgäres und Lebendiges. Sie waren Orte der Freiheit und Freude.

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Balsam für die Sohle – Jeder Muskel wird durchblutet

Langsam setze ich den Fuß in die glucksende Pampe. Genieße es, wie mir der Dreck zwischen die Zehen quillt und zäh wie Leim über dem Spann zusammenläuft. Es ist ein herrlich kühles, weiches und beruhigendes Gefühl. Balsam für die Sohle! Nach einer Stunde barfuß über Stock und Stein. Um die Mittagszeit bin ich losgelaufen – von einem Ende des Schrammsteingratwegs zum anderen, ein paar der schönsten Wanderkilometer der Sächsischen Schweiz. An der Schrammsteinaussicht ziehe ich die dicken Bergschuhe und Socken von den Füßen, stecke sie ins Schlafsackabteil meines Rucksacks und mache mich auf den Weg. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht: Barfußwandern.

Hoher Torstein und Falkenstein
Zwei Majestäten: Hoher Torstein und Falkenstein. (Foto: Hartmut Landgraf)

Ich weiß von Könnern dieser Disziplin, dass man mit etwas Übung auf nackten Sohlen und ohne mit der Wimper zu zucken sogar stundenlang über Gletschereis und Alpenpässe traben kann. Und genießen, wie entspannt und gut man sich dabei fühlt. Vor mir liegen nur etwa drei Kilometer Wald und Fels über den Gratweg bis zur Breiten Kluft, dann weiter die Obere Affensteinpromenade und den Zurückesteig bis zur Heiligen Stiege – aber von Genießen kann anfangs überhaupt keine Rede sein, auch nicht von Wandern, nicht mal von Spazieren. Ich hüpfe und stelze auf unsicheren Füßen vorwärts wie der Prototyp eines Homo Sapiens, der den aufrechten Gang noch nicht so richtig beherrscht. Der Weg präsentiert seine Stichwaffen: messerscharfe Felskanten, fiese Zapfen, spitze Äste und Kiesel, Eisenleitern und Gitterroste – die ersten hundert Meter bleiben in unangenehmer Erinnerung. Wenn Füße singen könnten, es wäre ein Song in der Tonlage von ACDC-Frontmann Brian Johnson.

Barfuß durch den Matsch
Ein tolles Gefühl!
Barfuß übers Gitterrost
Das macht keinen Spaß….
Blindschleiche und Fuß
Die Blindschleiche nimmt schleunigst Reißaus. (Fotos: Hartmut Landgraf)

Wieder ein Stein, mit dem ich nicht gerechnet habe… Unkontrollierter Ausfallschritt. Mist! Es sticht bis hoch ins Knie. Doch schon nach ungefähr zehn Minuten hören die Fehltritte auf, und am Wildschützensteig finde ich langsam in meinen normalen Wanderrhythmus hinein. Ich passe besser auf, wohin ich trete, bin hellwach und mit allen Sinnen bei der Sache und auf den Weg konzentriert. Die Balance kehrt zurück. In den Sohlen macht sich allmählich ein unterschwelliges Kribbeln breit, das sich gar nicht mehr so unangenehm, sondern warm und sehr lebendig anfühlt. Jeder Muskel in den Füßen wird durchblutet, jede Sehne gestrafft. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich diesen Weg zwar schon oft gewandert bin, ihn aber noch nie so hautnah erlebt habe. Er war wie ein entfernter Bekannter, über den man alles zu wissen meint, obwohl man keinen Kontakt zu ihm hat. Ich lief wie auf tauben Füßen durch die Welt – auf anderthalb Zentimetern Gummiprofilsohle. Der Schrammsteingratweg ist einer der schönsten Wege, keine Frage. Das wusste ich und habe ihn doch nicht richtig gesehen. Jetzt, zum ersten Mal – „berührt“ er mich.

Barfuß-Prominenz: von Moses bis Julia Roberts

Das Gefühl ist intensiv und wird immer besser. Es geht über Leitern und Brücken bergauf und bergab. Hin und wieder begegnen mir Wanderer. Kurzes Hallo, heimlicher Blick auf meine Füße, die sich allmählich der Farbe des Untergrunds anpassen. Kommentare gibt es keine. Mir wäre das auch herzlich egal. Barfußlaufen ist in meinen Augen eine ganz natürliche und artgerechte Sache, schließlich bin ich nicht mit Schuhen auf die Welt gekommen. Es gab in der Geschichte aber auch eine Reihe prominenter Leute, die diese Form der Fortbewegung völlig normal fanden: Moses zog sich am brennenden Dornbusch die Schuhe aus. Jesus und Mahatma Gandhi gingen barfuß. Der legendäre Marathonläufer Abebe Bikila holte 1960 in Rom barfuß das erste olympische Gold für Schwarzafrika. Galt der Verzicht auf Schuhe früher oftmals als ein Zeichen von Armut oder religiöser Askese, wurde er spätestens in der 68er-Generation und in der Film- und Musikbranche richtig hipp. Ozzy Osbourne, Sänger von Black Sabbath, trat in den 80ern oft barfuß auf. Von Freddy Mercury, Marc Knopfler, Sting und Bryan Ferry ist ähnliches bekannt. Unlängst erst sorgte Hollywood-Star Julia Roberts beim Filmfest in Cannes für Wirbel – als sie barfuß über den roten Teppich lief.

Blick auf die Schrammsteinkette
Ein Stück östlich des Jägersteigs öffnet sich ein herrlicher Blick ins Elbtal, zur Schrammsteinkette und auf die Tafelberge der Sächsischen Schweiz. (Foto: Hartmut Landgraf)

Den Jägersteig lasse ich rechts liegen, steige ein paar Stufen hinauf aufs Riff, wandere über sonnengewärmten Fels und weichen Sand und fühle mich plötzlich auf seltsame Weise geerdet. Der Tumult im Kopf hat sich gelegt. All die Gedanken, die mich in den letzten Wochen beschäftigt und durchs Leben getrieben haben…. Sie sind zwar nicht verstummt, aber für den Moment leise gestellt. Als ob ich mit dem großen Zeh an einen Dimmer gestoßen wäre. Diese Ruhe tut gut. Ich spüre den warmen Wind auf der Haut und den Sonnenschein, schaue ein paar fetten Wolkenschafen zu, wie sie faul und träge über ihre himmelblauen Weiden ziehen. Ich höre Vögel zwitschern, Insekten summen, Blätter rascheln. Irgendwo knarrt ein Baum. Eine Blindschleiche windet sich vor mir ins Heidekraut. Ich mache ein Foto und freue mich diebisch, dass mein Fuß mit im Bild ist.

Mehr passiert nicht bis zur Heiligen Stiege. Und ganz ehrlich – das ist im Grunde auch mehr als genug für einen Tag. Stunden später sitze ich in Dresden an der Elbe und genieße den Sonnenuntergang. Ich habe kein spektakuläres Abenteuer erlebt, aber es war einer von diesen Tagen, an denen man abends ein Bier trinkt – und alles ist gut. Ich bin dankbar dafür. Das Wärmegefühl in den Füßen hat noch Stunden angehalten. Und noch immer sehe ich die Dinge um mich herum um ein Vielfaches klarer und deutlicher, jeden Grashalm und jeden Stein. Alles hat irgendwie mehr Farbe und Bedeutung bekommen. Dinge, die man mit Fingern und Zehen berühren kann – über die man nicht nachdenken muss. In meinen Füßen hat Brian Johnson inzwischen das Mikrofon an Louis Armstrong weitergereicht: What a wonderful world! Es ist eine ganz andere Welt, wenn man die Schuhe auszieht. Sie ist so viel näher, so voller Leichtigkeit und Lebensfreude. Das reinste Wunder. Pures Glück. Wie damals in der Kindheit, als Bäume und Steine noch sprechen konnten und die paar Schritte zum Bach eine echte Reise waren. Und überall gibt es Matsch und die schönsten Pfützen.

Unsere Wander-Serie geht weiter!

Bereits erschienen sind:

Teil 1 – Wild und Wanderbar | Gewaltige Tafelberge, märchenhafte Schluchten, wilde Natur. Mitten in Deutschland. Für viele Outdoorfreunde ist die Sächsische Schweiz noch eine Entdeckung. >>> Zum Beitrag

Teil 2 – Die Welt zu Füßen | Rund die Hälfte aller Deutschen geht gelegentlich oder regelmäßig wandern. Doch wo kommt dieser Drang zum Loslaufen eigentlich her? >>> Zum Beitrag

Teil 3 – Wunder der Klamm | Das Polenztal ist der Inbegriff des Elbsandsteinfrühlings. Die Natur hier gehört zum Wertvollsten, was die Sächsische Schweiz zu bieten hat. Trotzdem spielt sie verkehrte Welt. Und manches können selbst Experten nicht erklären. >>> Zum Beitrag

Teil 4 – Was Google nicht findet | Rolf Böhm zeichnet die mit Abstand genauesten Wanderkarten der Sächsischen Schweiz. Weil er Wege nicht bloß als Linien im zweidimensionalen Raum begreift – sondern als Zugang zur Natur. >>> Zum Beitrag

Teil 5 – Über dem Nebelmeer | Vor rund 200 Jahren entstand in der Sächsischen Schweiz ein Bild, das Kunstkennern bis heute Rätsel aufgibt – und romantisch veranlagte Menschen in der ganzen Welt begeistert. Seinen Sinn kann man in der Landschaft erfahren. Oder in sich selbst suchen. >>> Zum Beitrag

Teil 6 – Die Philosophie des Wanderns | Ist Wandern eine Form von Meditation? Sehen wir eine andere Landschaft, wenn wir zu Fuß unterwegs sind? Und wieso ist ein Navi schlecht für unser Selbstbewusstsein? Auf manches wissen vielleicht nur Philosophen eine Antwort. Der Sandsteinblogger hat einen gefragt – Gerhard Fitzthum. >>> Zum Beitrag

1 Kommentar zu Pures Glück

  1. Vielen Dank für diesen netten Artikel. Als am liebsten ohne Sohle Geher hat mich dieser Blog besonders angesprochen. Es müssen nicht immer die großen und spektakulären Dinge sein die begeistern. Den Füßen mal freien auf zu lassen ist sehr angenehm. Zwängt ein das Leben doch schon genug ein. Dieses Wärmegefühl in den Füßen kann ich nur bestätigen. Da ich kürzlich den Rückweg vom Klettergipfel zum Auto auch ohne Sohlen gelaufen bin.
    Vielen Dank an dieser Stelle für die tollen Blogs auf dieser Seite. Keiner wird ausgelassen 🙂

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