Der Traumzauberbaum

Licht in der Baumkrone
Gibt´s den Traumzauberbaum wirklich? Eine alte Hainbuche am Ufer der Röder, nördlich der Dresdner Heide. (Foto: Hartmut Landgraf)

Ein bekanntes Kinderlied erzählt von einem magischen Baum hinter der Stadt, in dessen Krone die Träume wohnen. Was wäre, wenn es ihn wirklich gibt? Du bist nie zu alt, es herauszufinden.

Das ganze Bett schaukelt. Irgendwo rauscht Wasser. Und auf dem Balkon gegenüber hat jemand Licht angemacht. Die Eindrücke und Geräusche purzeln durcheinander wie Puzzleteile in der Box und ergeben überhaupt keinen Sinn. Ich reibe mir die Augen, ganz allmählich kehrt die Erinnerung zurück. Der Blick aufs Handy holt mich vollends zurück in die Welt: 1 Uhr nachts, volles Netz. Ich schiebe mir den Schlafsack vom Bauch – ganz vorsichtig, damit er nicht versehentlich in der Tiefe verschwindet. Durchs schwarze Blätterdach hindurch versuche ich einen Blick nach draußen zu erhaschen: Gelb und geheimnisvoll steht der Mond über den Wiesen und schaut still zu mir herüber. Ich prüfe meine Sicherung: Der Karabiner ist zugeschraubt, das Seil straff gespannt. Unter mir rauscht die Röder.

Am Röderufer
Laut Feng Shui ist es nicht gut, über Wasseradern zu schlafen. Davon hab ich nichts gemerkt. (Foto: Hartmut Landgraf)

Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal auf einen Baum geklettert bin, bis hinauf in die Krone. Vielleicht war´s in der Kindheit, ich weiß es nicht mehr. Aber auf einem Baum geschlafen habe ich noch nie. Es gibt Dinge, von denen man gar nicht weiß, dass man sie machen will. Bis es soweit ist. Sonntagnachmittag ein Stück nördlich der Dresdner Heide:  Mit zwei wasserdichten Bootstaschen und eine Hängematte unterm Arm stehe ich unter einer kräftigen Hainbuche. Unter ihren weit übers Wasser hängenden Ästen zieht der Röderbach geschwind und quirlig hindurch, als habe er es eilig, aus der Falllinie des mächtigen Stamms wegzukommen. Der Baum ist parabelartig gewachsen, eisern halten seine Wurzeln den schweren Rumpf im Gleichgewicht. Ich dränge den Gedanken beiseite. Einen besseren Platz werde ich nicht finden. Die Hainbuche ist wie zum Klettern geschaffen. Am Baum daneben muss man unten einen Klimmzug machen, oben wird’s aber leichter. Wo die Krone anfängt – sechs, sieben Meter überm Erdboden – ist genug Platz zwischen den beiden Stämmen für die Hängematte.

Steighilfen
Einfachste Steighilfen – ein paar Knoten im Seil. (Foto: Hartmut Landgraf)

Ich halte inne und schaue dem Bach zu, wie er glucksend und schäumend über flache Steine zieht. Ein paar grüne Hainbuchenblätter schwimmen auf dem Wasser. Ich sehe zu, wie sie davontreiben, und für einen Moment wandern meine Gedanken mit ihnen flussabwärts in die verrückte Welt. Es ist ein Wochenende mit fetten Schlagzeilen: Anschlag in München mit Toten und Verletzten, die Stadt im Ausnahmezustand, die GSG 9 im Einsatz. Ein Albtraum. Die Zeitung liegt noch ungelesen zu Hause auf dem Tisch – ich hatte kurz überlegt, sie mitzunehmen, es dann aber gelassen.

Stativ in der Astgabel
Stativhalterung: So gelingen verwacklungsfreie Nachtaufnahmen in der Baumkrone. (Foto: Hartmut Landgraf)

Stattdessen kommt mir das alte Lied vom Traumzauberbaum in den Sinn. Es erzählt von einem magischen Baum hinter der Stadt, in dessen Krone die Träume wohnen. Berührt man eines seiner Blätter leise mit einer goldenen Stimmgabel, dann löst es sich ab und geht auf Reisen. Nur die schwarzen Blätter – die dunklen und bösen Träume – die hält der Baum fest und lässt sie nicht davonfliegen. Das wäre es doch. Ein Leben ohne Albträume… Am Ufer kippe ich den Inhalt der Packtaschen auf die Erde. Kletterkarabiner in allen möglichen Farben und Größen purzeln heraus, eine blanke, fabrikneue Abseilacht, das Alugestänge des Kamerastativs und eine verchromte Gaslampe. Ein bunter Haufen Metall. Nur eine goldene Stimmgabel ist nicht dabei.

Es dauert Stunden, bis ich den ganzen Krempel hinaufgeschafft und festgebunden habe. Die Hängematte hält mich zum Narren – mal hängt sie zu sehr durch, dann wieder ist die Spannleine zu kurz, ich muss wie ein Eichhörnchen zwischen den beiden Bäumen hin- und herklettern, bis die Position endlich stimmt. Die Gaslampe hängt am Fußende, gegenüber am Kopfteil fixiere ich die Packtasche, in der sich das Bier befindet. Eine stabile Astgabel bietet sich als verlängertes Kamerastativ an. Derweil fällt die Dämmerung aufs Land. Aus den Wiesen an der Röder steigt Nebel auf. Langsam und gespenstisch zieht er zwischen den Ufergehölzen bachaufwärts, das Vogelgezwitscher ist mit einem Schlag verstummt. Der Himmel hat eine dunkelgraue Kapuze übergezogen – hoffentlich regnet´s heute Nacht nicht.

Alles wird festgebunden
Alles wird vertäut wie auf einem Segelschiff: von der Gaslaterne bis zum Beutel mit den Kletterlatschen. (Foto: Hartmut Landgraf)

Regenträume wohnen in blauen Blättern. In der Geschichte vom Traumzauberbaum reißen zwei vorwitzige Waldwichte heimlich alle blauen Blätter vom Baum ab, weil sie Regen nicht leiden können. Doch dadurch geschieht etwas weitaus Schlimmeres: Der Frevel erzürnt den Wolkengeist, sodass er seine Wolken einsammelt und es fortan überhaupt nicht mehr regnen lässt. Ohne Regen aber trocknet der Bach aus, der die Wurzeln des Traumzauberbaums mit Wasser speist – der Baum wird matt und kraftlos und kann die schwarzen Blätter mit den Albträumen nicht mehr festhalten.

Manche Dinge machen wir unnötig schlimmer, indem wir sie zu ändern versuchen. Sie hinzunehmen wie sie sind, mag für den Moment Kraft und Tränen kosten, aber dagegen anzukämpfen, hält einen ewig im Zustand des Leidens fest – solange, bis man aufgeben muss oder daran zerbricht. „Ich habe nichts gegen das, was geschieht“, hat der indische Philosoph Krishnamurti einmal gesagt. In dem Satz steckt die ungeheure Lebenskraft der Bäume, jedes Wetter so hinzunehmen, wie es kommt. Nach der Sonne den Regen und nach dem Regen wieder die Sonne. Auf diese Weise bleibt man auf immer mit dem Lebensfluss verbunden.

Schlafend in der Hängematte
Schlafenszeit… (Foto: Hartmut Landgraf)

Während ich über all das nachdenke, ist der Mond auf seiner Bahn ein großes Stück weitergewandert. Ich lehne mich zurück in die Hängematte und ziehe mir den Schlafsack wieder über die Beine. Allmählich gleite ich zurück in einen Dämmerzustand, in dem Schlafen und Wachen ineinanderfließen und Traumbilder nicht mehr sicher von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. Vielleicht habe ich den Traumzauberbaum gefunden – hier an der Röder, nördlich von Dresden. Vielleicht ist es nur ein ganz normaler Baum. Welchen Unterschied macht das schon? Tief unter mir sprudelt dunkel der Bach über Steine und Blöcke, nur hier und da glitzert sein Wasser im Mondlicht wie ein Brillantcollier. Es spritzt und quirlt – und dann ist es wieder still und zieht leise singend zwischen Eichen, Erlen und Hainbuchen von dannen. Wenn man sehr genau zuhört, wird man Teil dieser Melodie. Es ist, als ob gleichsam innen und außen ein Bach rauscht. Die Zeit kommt zum Stillstand, und mit seiner duftigen, wunderbaren Kraft tritt das Jetzt ins Bewusstsein – das Leben. Ich habe nichts gegen das, was geschieht, sage ich in Gedanken zu mir selbst. Dann schlafe ich ein.

1 Kommentar zu Der Traumzauberbaum

  1. und wieder hast Du es geschafft(entschuldige das Du), was will er mit dem Artikel sagen. Also wird nach der Geschichte von Reinhard Lakomy gegraben. Mich hat es angesprochen, anders auch?

    Und weil ich vom Nachgraben rede, was denkst Du/ Ihr von einem Veranstaltungskalender der Sächsischen Schweiz im Blog, siehe solche Termine, wie Outdoor,- Erlebnistage Königstein usw.
    Ihr steckt so tief in der Szene, das ist sicher kein Problem und auch kein Schaden für den Blog.

    Ganz liebe Grüße
    Peter Zimmermann

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