Der Tropfen

Regentropfen an einem Fichtenzweig
Viel zu anhänglich... (Foto: Thomas Pöschmann)

Naturfotografen wünschen sich manchmal nichts sehnlicher, als dass irgendwo ein Sack Reis umfällt.

Hätte Heraklit die Welt seinerzeit durch die Linse eines Makroobjektivs anschauen können, wäre er vom Glauben abgefallen. Und die Menschheit hätte dann womöglich keine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit des Lebens bekommen. Diese lautet: Nichts bleibt, wie es ist. „Panta rhei“ – Alles fließt!

Ein Landschaftsfotograf aus Sachsen fand nun zweieinhalb Jahrtausende nach Heraklit per Zufall beim Knipsen im Elbsandsteingebirge eine ganz andere Weltformel: In diesem Leben fließt gar nix – nicht einmal Wasser! Der Mann, Mitglied einer in der Region umtriebigen Künstlercrew namens Stativkarawane, wollte auf dem Alten Wildenstein Filmaufnahmen vom Abseilen machen – hatte dabei jedoch keinen Kletterer im Visier, sondern einen Tropfen. Der, so als sei ihm der fokussierte Blick auf den dicken Wasserbauch unangenehm, ließ sich Zeit. Mehr noch: Als der Fotograf in gespannter Vorfreude auf den Niedergang des Tropfens sein Objektiv einstellte, blieb dieser mit der Geduld einer Weihnachtsbaumkugel an seinem Fichtenzweig hängen, und bewegte sich überhaupt nicht mehr. Eine gefühlte Stunde lang rührten sie sich nicht vom Fleck – weder der Mann, noch der Tropfen – bis schließlich einer von beiden die Warterei satt bekam: der Fotograf.

Zu Heraklits Zeiten konnte man von den Gravitatitonskräften noch halten, was man wollte, aber seit im Jahre 1660 Sir Isaac Newton in seinem Garten ein Apfel vor die Füße fiel, ist es Gesetz, dass alle schlecht aufgehängten Dinge dieser Erde irgendwann auf geradem Weg nach unten kommen müssen. Diese Gewissheit hilft jedem halbwegs verständigen Menschen, seinen Platz in der Welt zu finden. Wenn sie aber trotz besseren Wissens nicht eintritt, beginnt schließlich auch der Verständigste, an den Regeln der Physik zu zweifeln – und an denen der Vernunft. Unser Fotograf jedenfalls, im dringenden Bedürfnis sich die Zeit zu verkürzen – und nachdem er bereits alle möglichen Versionen des Heraklit´schen Vergänglichkeitsmantras im Geiste durchbuchstabiert hatte – wechselte das Objektiv, und als auch das nichts half und der Tropfen weiterhin stur wie ein Esel auf der Stelle stand, griff der verzweifelte Mann schließlich zum letzten Mittel – seiner Wasserflasche – und gab dem ins Stocken geratenen Kreislauf der Natur von hinten Schwung.

Da endlich ließ der Tropfen die beharrlich umklammerte Zweigspitze fahren und stürzte sich im Gefolge seiner Brüder und Schwestern tanzend und mit lustig blitzenden Augen stromabwärts in den Fluss des Lebens. Allein unter Fichten blieb ein entnervter Fotograf zurück – mit einer Filmsequenz, die, wie er später zugeben musste, einem Erdbeben weit ähnlicher sah, als dem epischen Ende eines Wassertropfens.

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Mystische Bilderreise durch die Sächsische Schweiz

Die Stativkarawane mal anders: Erstmals und nur noch bis 18. Juni 2017 zeigt das Stadtmuseum Neustadt/Sa. eine Sonderausstellung mit Natur- und Landschaftsbildern der populären sächsischen Foto-Crew. Die ist mit ihren Shows sonst nur auf Bühnen zu sehen.

Kleine Kiefer auf einem Felsen
Randexistenz im Elbsandstein. (Foto: Sven Legler)

„Mystische Sächsische Schweiz“ – so lautet der Titel einer atemberaubenden Bilderreise durch die mit Abstand bekannteste Wander- und Kletterregion im Osten Deutschlands, die schon zu Zeiten der Romantik zum Mythos und Sehnsuchtsort für Naturliebhaber und Abenteurer wurde und heute mehr als drei Millionen Besucher jährlich anzieht.

Fotografien von Sven Legler, Thomas Pöschmann und Sven Dietrich. Die Ausstellung ist zu den normalen Öffnungszeiten des Museums zugänglich.

Infos unter >>> Stadtmuseum Neustadt und Stativkarawane.de

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