Spuren im Sand

Im Elbsandsteingebirge lebt ein Tier, das die Fantasie der Menschen schon seit der Antike beflügelt. Es gehört zu den effektivsten Fallenstellern in der Natur. Gefährlich besonders für Ameisen.


Schon Charles Darwin war von ihm fasziniert: von dem geheimnisvollen Tier, dessen Spuren man unter vielen Felsüberhängen der Sächsischen Schweiz findet. Er berichtet davon in den Aufzeichnungen seiner Weltumseglung an Bord der HMS Beagle (1831-36), die zweifellos eine der folgenreichsten naturwissenschaftlichen Forschungsreisen der Geschichte war. Auf der fünfjährigen Reise sammelt Darwin Tausende von Proben, schreibt Hunderte Tagebuchseiten voll und skizziert erstmals seine Idee vom Stammbaum des Lebens. Seine Beobachtungen bilden später die Grundlage für sein bahnbrechendes Werk zur Evolution der Arten, das der modernen Biologie eine völlig neue Richtung gibt.

Eine hingegen wenig beachtete Fußnote dieser Reise: In Australien stößt Darwin bei einem seiner Landgänge auf ein Tier, das er zwar schon aus Europa kennt, dessen raffinierte Beutefangtechnik ihn aber so fesselt, dass er folgende Notiz in sein Reisetagebuch schreibt:

18. Januar 1836, HMS Beagle

„(…) Während ich so nachdachte, beobachtete ich die hohle, kegelförmige Fallgrube einer Löwenameise: zuerst fiel eine Fliege den tückischen Abhang hinunter und verschwand sofort; dann kam eine große, aber unvorsichtige Ameise; sie kämpfte sehr heftig, um zu entkommen, und diese merkwürdigen kleinen Sandstrahlen [. . .] wurden sofort gegen das erwartete Opfer gerichtet. Aber die Ameise hatte ein besseres Schicksal als die Fliege und entkam dem tödlichen Rachen, der sich am Fuß der kegelförmigen Mulde verbarg (…).“


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Mit Unterstützung des Vereins der Freunde des Nationalparks Sächsische Schweiz

Die Ameisenjungfer ist eine der artenreichsten Insektenfamilien, die auf allen Kontinenten zu Hause ist. Ihren evolutionären Erfolg verdanken die libellenartigen Netzflügler vor allem ihren Larven – den sogenannten Ameisenlöwen – die sogar Sandlebensräume bewohnen können und damit eine ökologische Nische in der Natur für sich erschlossen haben.

Sand gibt´s auch in Sachsen in Hülle und Fülle: in den sandigen Kiefernwäldern an der Grenze zu Brandenburg, in alten Braunkohlerevieren, in der Dresdner und Königsbrücker Heide – und im Elbsandsteingebirge. Weshalb der Ameisenlöwe hierzulande weit verbreitet ist. Wissenschaftler der TU Dresden fanden vor einigen Jahren die größte bekannte Population der Insektenlarve in der Dresdner Heide. Wo und wie man sie im Elbsandsteingebirge findet und was es mit ihrer gewieften Jagdtechnik auf sich hat, erfahrt ihr im Beitrag.

Szenen einer Löwenjagd

Faustgroße Sandtrichter wie im Foto findet man unter vielen Felsüberhängen in der Sächsischen Schweiz. Am Grund des Trichters lauert er auf seine Beute: der Ameisenlöwe.

Sagenumwobener Winzling: Über den Ameisenlöwen gibt´s in vielen Kulturen auf der ganzen Welt teils grausige Geschichten. Dabei ist er kaum mehr als einen Zentimeter lang. Das ausgewachsene Insekt – in diesem Fall eine Geflecktflüglige Ameisenjungfer – ähnelt später in Größe und Körperbau einer Libelle, gehört aber zu den Netzflüglern.


Unsere „Jagdwaffen“: Löffel, Röhrchen, Lineal und – ganz wichtig! – eine farbige Matte, da Ameisenlöwen nur schwer vom Untergrund zu unterscheiden sind.

Steffen Elsner wusste schon als Kind über den Ameisenlöwen Bescheid, Elisabeth Finger kennt das Insekt vom Klettern und Boofen.

Die sandigen Felsplateaus im Rathener Gebiet bieten nicht nur fantastische Aussichten auf die Tafelberge der Sächsischen Schweiz, sondern sind auch ein idealer Lebensraum für den Ameisenlöwen.


Spuren im Sand


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Angsteinflößend und gefräßig soll er sein, mit einem schrecklichen Maul und messerscharfen Beißwerkzeugen. So stand´s in dem Buch, in dem Steffen Elsner zum ersten Mal von ihm erfuhr: von dem geheimnisvollen Räuber, der tief vergraben im Sand auf Beute lauert. Ein Kindermärchen. Als Elsner es geschenkt bekam, war er sieben Jahre alt. Heute ist er 59 – doch die Geschichte hat er nicht vergessen. Und so machen wir uns an einem sonnigen Junitag auf den Weg, ihr auf den Grund zu gehen – an der Bastei, im Elbsandsteingebirge.

Die Felsüberhänge und sandigen Böden des Gebiets sind der ideale Ort für unsere Mission. Dass dies kein Märchen ist, beweist das Emblem an Elsners Hemdsärmel: Er ist Ranger und Mitarbeiter der Umweltbildung im Nationalpark Sächsische Schweiz. Touren wie diese macht er sonst nur mit Schulklassen oder den Junior-Rangern. Dritte im Bunde ist Elsners junge Kollegin Elisabeth Finger, die im Nationalpark gerade ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr absolviert. Und das Tier, das wir aufspüren wollen, ist kein Phantom, sondern hat sogar schon Preise gewonnen: 2022 wurde es in Deutschland zum Heimlichtuer des Jahres gekürt. Ein Meister der Tarnung und gewiefter Trickser, der im Verborgenen lebt und die Fantasie der Menschen schon seit Jahrtausenden beflügelt: der Ameisenlöwe.

Herodot hätte uns gewarnt. Um 430 v.Chr. beschreibt der griechische Geschichtsschreiber den Ameisenlöwen als groß und bösartig – eine Art Killerameise, größer als ein Fuchs. Er haust in Wüsten unter der Erde, hortet goldhaltigen Sand und frisst Menschen. In vielen Kulturen hat der sagenhafte „Löwe“ seine Spuren hinterlassen – von den Mythen des alten Indiens bis zur Tier-Ornamentik der mexikanischen Mimbres-Indianer, vom antiken Griechenland bis zu den Filmstudios von Hollywood. Überlebensgroß erscheint er freilich nur in Legenden. In Wirklichkeit ist er ein daumennagelgroßes Insekt – gefährlich allein für Ameisen und andere kleine Geschöpfe. Weshalb wir uns ruhigen Gewissens mit äußerst leichten Waffen auf die Löwenjagd trauen: Plaste-Röhrchen, Löffel und Lineal.

Gefährlich sieht er wirklich aus – unter der Lupe! Kompakt gebaut wie ein kleiner Panzer, über und über mit Borsten bedeckt und mit zwei kolossalen Gift-Zangen bewaffnet, mit denen er seine Beute packt und betäubt. Was er damit zu fassen bekommt, ist dem Tod geweiht. Eigentlich ist der Ameisenlöwe nur die Larve eines libellenartigen Insekts – der Ameisenjungfer. Ein nachtaktives zartes Wesen, dünn wie ein Streichholz mit seidigen Flügeln und hübschen blauen Augen. Dass sie im Larvenstadium solches Interesse weckt, hat mit ihrer raffinierten Beutefangtechnik zu tun, die schon Charles Darwin faszinierte: Der Ameisenlöwe gräbt anderen eine Grube: einen faustgroßen Fangtrichter aus Sand. Die Wände sind so feinkörnig und glatt, dass Insekten daran ins Rutschen geraten – geradewegs ins Maul des Löwen, der am Grund der Falle lauert. Droht die Beute zu entkommen, bewirft er sie mit Sand – was eine Lawine auslöst, die das Opfer zurückrutschen lässt. Wissenschaftler fanden heraus, dass Ameisenlöwen grobkörnige Sandpartikel gezielt aus dem Trichter entfernen, damit die Wände noch glatter werden. Dank dieser Technik gehören sie zu den effektivsten Fallenstellern in der Natur.

Ganz besonders ihr Wurftalent findet Professor Klaus Reinhardt von der TU Dresden bemerkenswert. „Sie wissen genau, in welche Richtung sie den Sand werfen müssen“, sagt der Zoologe. 2020 hat er mit Studierenden die größte bekannte Population der seltenen Insektenlarve entdeckt – 5000 Ameisenlöwen auf einer Freifläche in der Dresdner Heide. Auch das Elbsandsteingebirge, sagt Reinhardt, sei ein seit Langem bekanntes Habitat.

Wir haben unser Ziel erreicht: einen Felsvorsprung überm Elbtal. Im Sand sind deutliche Spuren zu sehen – duzende Trichter. Elsners Kollegin greift sich den Löffel, ich stelle die Kamera scharf. Beherzt versenkt sie das Grabwerkzeug in der Mitte eines Trichters, der Aushub landet daneben auf einer violetten Matte. Ameisenlöwen sind sandfarben und daher in ihrem Trichter nur schwer zu erkennen. Nach einigem Herumstochern hat unsere Jagd schließlich Erfolg. Da sitzt es! Das Ungeheuer aus Steffen Elsners Kinderbuch.

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