Flechten sind wahre Pioniere. Wo Leben möglich ist, tauchen sie auf. Sie halten Extreme aus und können sogar im Weltall überleben. Und wo sie sich vermehren, ist die Natur auf einem guten Weg.
Ein Stück Wildnis mitten in Sachsen: die Schluchtwälder der Kirnitzschklamm im Nationalpark Sächsische Schweiz. Mächtige Tannen und Fichten recken sich an den Steilhängen empor, dazwischen wachsen Hainbuche, Hasel, Bergahorn und Grauerle. Im Talgrund fließt unter moosgrünen Felsen die Kirnitzsch friedlich und still über die samtigen Matten des Haken-Wassersterns.
Seit mehr als 50 Jahren steht die Klamm unter Naturschutz. Vieles hier ist zum Staunen. Zum Beispiel ein Phänomen, das Fachleute als Vegetationsumkehr bezeichnen – zu gut Deutsch: Die Natur steht Kopf. Was normalerweise oben in den Bergen wächst, hat sich am tiefsten Grund angesiedelt und umgekehrt. Kiefern zum Beispiel sind von Natur aus eher Flachlandbewohner, Fichten und Tannen hingegen in den oberen Berglagen zu Hause. In der Sächsischen Schweiz ist es genau umgekehrt. Hoch oben, wo die Sonne das bisschen Humus auf den Felsriffen im Sommer zu einer harten Kruste bäckt, wachsen die ältesten natürlichen Kiefernwälder Sachsens. Und unten im Tal verharrt unbekümmert zu ihren Füßen die Fichte und sah bis vor Kurzem da am gesündesten aus, wo sie nicht allzu hoch hinaus musste. Grund dafür ist das feuchtkühle Klima, das in den Schluchten vorherrscht und den Bedingungen in höheren Lagen nahe der Baumgrenze ähnelt. Inzwischen hat der Borkenkäfer aber auch hier gewütet – und dabei einem Geschöpf den Garaus gemacht, das ein wahrer Gigant unter seinesgleichen war: der 400 Jahre alten Riesenfichte in der Kirnitzschklamm – Sachsens größtem Baum. Die Natur nimmt keine Rücksicht auf ihre eigenen Denkmäler. Was dem Leben nicht standhält, verschwindet.
Doch es gibt hier in der Klamm auch Lebewesen, die fast jeder Herausforderung trotzen: Flechten. In unbewirtschafteten, artenreichen Wäldern fühlen sie sich am wohlsten. Und wo sie sich vermehren, ist die Natur auf einem guten Weg.
Elbsandstein-Touren | Reisereportagen
Wo Flechten überall leben können und wie sie das schaffen, erfahrt ihr im Beitrag. Unten findet ihr eine kleine Galerie heimischer Flechtenarten, die im Elbsandsteingebirge vorkommen, darunter so seltene Exemplare wie die Wolfsflechte. Und außerdem gibt´s einen Buchtipp für alle, die Lust auf eine Zeitreise zu den Anfängen des Lebens haben – als die Flechten die Erde eroberten.
Buchtipp: Eine spannende Theorie der Evolution
Ist die Geschichte des Lebens ein ständiges Gegeneinander – ein ewiger Siegeszug der durchsetzungsstärksten Arten? Die amerikanische Biologin und Evolutionsforscherin Lynn Margulis entwickelt einen spannenden Gegenentwurf: Das Leben, sagt sie, war immer dort am erfolgreichsten und beständigsten, wo Individuen innerhalb ihrer eigenen Gruppe und über Artengrenzen hinweg miteinander kooperiert haben. Diese Strategie ist das Erfolgsgeheimnis der Flechten – einer Organismengruppe, die es seit mehr als 500 Millionen Jahren auf der Erde gibt und die mit den härtesten Umweltbedingungen klar kommt. Flechten sind von Natur aus Teamplayer, eine Symbiose aus Pilz und Alge. Ihr Studium kann uns helfen zu verstehen, wie die Natur Herausforderungen meistert. Und wie die Evolution wirklich verlief.
Lynn Margulis, Der Symbiotische Planet, Frankfurt/M. 2017
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