Allein gegen die Zeit

Der härteste Baum der Sächsischen Schweiz: Seit Jahrzehnten trotzt diese Zwergkiefer auf einem Riff in den Affensteinen zäh und ausdauernd Wind und Wetter. (Foto: Thomas Pöschmann)

1974 geriet ein kleiner Baum in der Sächsischen Schweiz auf ein Familienfoto. 40 Jahre später waren Vater und Sohn noch einmal dort – und fanden ein Geschöpf, dem die Zeit anscheinend nichts anhaben kann.

Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, so heißt es, steht für einen Moment die Zeit still. An diesem Punkt ist die kleine Kiefer in den Affensteinen seit einer halben Ewigkeit. Am Rand eines Felsriffs auf der Nordseite der Sächsischen Schweiz fristet sie ihr unmögliches Dasein. Dem Tod geweiht, verdreht und schon halb verdorrt, den Kopf in den Abgrund geneigt. Blanker Sandstein ist ihr Nährboden. Wind und Wetter zerren an ihren letzten Zweigen. Aber noch klammert sie sich mit erstaunlicher Kraft ans Leben.

Vielleicht muss man ihre Geschichte vor 40 Jahren beginnen, um zu begreifen, wie zäh und widerborstig dieser Zwerg in Wahrheit ist. An einem sonnigen Wochenende im Jahr 1974 gerät der Baum auf ein Familienfoto, dass den Dresdner Siegfried Großmann mit seinem damals sechsjährigen Sohn Frank auf einer Wandertour in der Sächsischen Schweiz zeigt. Es muss ein bisschen frisch gewesen sein, Sohnemann Frank trägt einen langärmeligen Pullover. Ob Frühling oder Herbst, ist auf dem Schwarz-Weiß-Bild nicht zu erkennen – und Siggi, heute 72 Jahre alt, hat die Details der Tour vergessen. Bis auf die Kiefer!

Schon vor Jahrzehnten ein beliebtes Fotomotiv

Die nämlich wächst zufällig auf einem der schönsten Aussichtsplätze der Sächsischen Schweiz – auf einem Plateau an der Häntzschelstiege, hoch über dem Affensteingebiet – und ist in ihrer verkorksten Existenz schon damals ein beliebtes Fotomotiv. Heute hat sie in Fotografenkreisen wegen ihres exponierten Standorts in der Landschaft sogar einen Spitznamen: Stativkiefer. Ihre zarte Gestalt bietet einen willkommenen Kontrast zum grandiosen Panorama dahinter. Man überblickt die hintere Sächsische Schweiz wie ein Amphitheater: Kleiner Winterberg, Kuhstall, Lorenzstein, Zschand… Auf dem verblassten Foto ist zwar vom Hintergrund nicht mehr viel übrig – umso bemerkenswerter aber ist die Kiefer. Damals sah das Bäumchen fast genauso aus wie heute. In 40 Jahren ist es anscheinend weder gewachsen noch gealtert.

Vater und Sohn vor 40 Jahren.
Siegfried Großmann mit seinem Sohn Frank auf einem der schönsten Aussichtsplätze der Sächsischen Schweiz in den Affensteinen. Die Kiefer hinter ihnen ist ein legendäres Fotomotiv. Die Aufnahme entstand 1974. (Foto: Archiv Siegfried Großmann)

 

Vater und Sohn an der Stativkiefer
40 Jahre später – fast derselbe Anblick. Nur Frank und Siggi haben sich ein bisschen verändert. (Foto: Hartmut Landgraf)

Ganz anders Siegfried und Frank. Seit damals, 1974, waren die beiden nicht mehr gemeinsam an ihrem Baum. Siggi – auf dem Foto noch blond und kerzengerade – ist inzwischen ein betagter Mann mit eisgrauem Schnurrbart, dem der Aufstieg in die Affensteine an mancher Stelle schon sichtlich Mühe macht. Aus dem pausbäckigen Lausejungen Frank hingegen ist ein kräftiger Mann geworden, der längst eigene Kinder hat. Es wird Zeit für ein neues Foto.

Wir treffen uns am Beuthenfall. Übernacht hat es Frost gegeben. Im Kirnitzschtal ist es kalt wie in einer Tiefkühlzelle. Raureif glitzert im Geäst der Bäume. Die Häntzschelstiege ist Siggi bei solchen Bedingungen nicht geheuer. So trittsicher wie früher ist er heute nicht mehr. „Wenn du alt bist, fällst du wie ein Baum“, erklärt er zerknirscht. „Da gibt es kein Halten.“ Wir wählen den längeren aber dafür ungefährlichen Aufstieg über den Frienstein.

Die Felsen starren schwarz und schweigend auf uns hinunter. Langsam und bedächtig steigen wir die Stufen zum Frienstein hinauf – und je höher wir kommen, desto weiter wird das Land. Begierig atmen unsere Stadtlungen die reine, gesunde Winterluft. Auch die Augen müssen sich erst wieder an die ungetrübte Fernsicht gewöhnen. Um uns herum biegt sich der Horizont zu einem strahlend weißen Kreis. Blassblau schimmert der Wald zwischen den Bergen. Eine Welt wie in einer gläsernen Schneekugel, die darauf wartet, geschüttelt zu werden.

Frank erzählt mir von seinen Wandertouren als Kind. Damals habe er immer die Bergsteiger bewundert, die mit ihren klimpernden, bunten Karabinern am Gurt durch den Elbsandstein zogen. Heute geht er selber klettern – eine Leidenschaft, die er nicht vom Vater hat. Trotzdem verbindet auch Siegfried eine tiefe Liebe mit der Sächsischen Schweiz, er hat seinen Ausdruck dafür in der Landschaftsfotografie gefunden. Deshalb liegt ihm auch das Schicksal der kleinen Kiefer an der Häntzschelstiege so sehr am Herzen.

Nach gut zwei Stunden über Stock und Stein haben wir unser Ziel erreicht. Da steht der Baum! Ungerührt und trotzig, so als könnten ihm Wind und Wetter nichts anhaben. Der Kümmerwuchs der Kiefer ist allerdings eine glatte Untertreibung der Natur. Denn der Zwerg ist in Wahrheit ein Uropa. Kaum stärker als ein Arm, könnte der Baum gut 150 Jahre auf dem Buckel haben. Eine gleichaltrige Eiche wäre über einen Meter dick. Dass er so mickrig aussieht, hängt mit dem kargen und äußerst wasser- und nährstoffarmen Standort zusammen. Kiefern sind extrem genügsam und echte Waldpioniere. Nach der letzten Eiszeit vor mehr als 9000 Jahren sind sie zusammen mit den Heidekräutern und Flechten nach Sachsen eingewandert. Immer den zurückweichenden Gletschern hinterher. Wo nicht genügend Nährstoffe sind, können Kiefern jahrelang dahinvegetieren, ohne dabei zugrunde zu gehen. Mitunter wachsen sie dann in 20 Jahren nur den Bruchteil eines Millimeters. Sie bleiben Krüppelbäume – uninteressant für die Forstwirtschaft. So ist es kein Wunder, dass auf den spärlich bemoosten Felsriffen der Sächsischen Schweiz heute die ältesten Kiefern Sachsens zu finden sind.

Traurige Entdeckung

Wir machen unser Foto – mit Vater und Sohn und Baum – so wie vor 40 Jahren. Es ist ein denkwürdiger Augenblick. Wenn man die beiden Bilder zusammen betrachtet, verändert sich der Blick auf dieses kleine und schmächtige Geschöpf. 40 Jahre verändern einen Menschen so sehr, dass man ihn kaum noch wiedererkennt. Die kleine Kiefer aber sieht sich selbst noch immer sehr ähnlich. Einsam und ausdauernd kämpft sie ihren eigenen Kampf gegen die Zeit und wäre dabei viel stärker und erfolgreicher als wir, würden wir ihre Lebensspanne nicht mutwillig und gewaltsam verkürzen. Die herrliche Tour endet leider mit einer traurigen Entdeckung: In einem ihrer Aststummel hat die Kiefer einen frischen und tiefen Sägeschnitt. Wir stehen davor und können es nicht glauben. Wer macht sowas? Und warum? Frank schüttelt fassungslos den Kopf: „Idioten“, murmelt er nur.

Der Abstieg zum Beuthenfall ist nicht so fröhlich, wie er sein könnte. Der Tag hat einen Schatten bekommen. Wir reden über die Arbeit, über dies und jenes. Die Winterluft trägt unsere Stimmen weit hinaus ins Felsenland. Der Wald schweigt. Die Kiefer, sagt Frank, könnte eine Familientradition werden. Irgendwann will er zurückkommen und dort oben von sich und seinem Sohn ebenfalls ein Foto machen. Hoffentlich. Denn vielleicht sind die Tage des Bäumchens nun wirklich gezählt.

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2 Kommentare zu Allein gegen die Zeit

  1. Nein, Martin, das stimmt nicht. Es gibt so viele Touren, auf denen Du auch tagsüber fast allein bist. Denk mal an Sponghorn oder die Hintere Sächsische Schweiz. Die Pohlshörner oder auch die Bärfangwände sind doch nicht frequentiert durch Touris,…

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