Robert Leistner klettert im Elbsandstein sagenhaft glatte Wände empor, als könne ihm die Schwerkraft nichts anhaben. Scheinbar mühelos und leicht wie ein Tänzer. Und manchmal sogar richtig stilvoll – mit Frack und Zylinder.
Ist der Mann eine Ameise? Schluckt er Unmengen von Anabolika? Hat er Klebstoff an den Händen? Wer Robert Leistner beim Klettern zuschaut, versteht die Welt nicht mehr. Selbst für gestandene Bergsteiger ist es schier unfassbar, mit welcher Geschmeidigkeit und Eleganz der Dresdner in den steilsten Wänden des Elbsandsteingebirges herumturnt. Wie von Zauberkräften an den Fels gebannt, steigt er der Schwerkraft davon – an nichts als kieselgroßen Löchern und Leisten, die ihm als Griffe und Tritte dienen.
Ich erlebe Robert Leistner zum ersten Mal vor drei Jahren, bei den ersten Versuchen an seiner bislang schwersten Route: Circus Maximus – an der sagenhaft glatten Nordwand des Müllersteins im Schrammsteingebiet. Schwierigkeit sächsisch XIb. Schon damals beschäftigt mich die Frage, wie sich einer wie er in der horizontalen Welt bewegt. Ob es auch einen anderen Robert Leistner gibt. In den Ebenen des Lebens – da, wo keine Abenteuer warten, sondern ganz normale Aufgaben. Einen Robert, der andere als die eigenen Erwartungen erfüllt. Der seine Träume zurückstellt, um Verantwortungen gerecht zu werden. Der sich aus Vernunft mit der zweitbesten Wahl zufriedengibt. Der verliert. Einen Altags-Robert.
Diesen Robert lerne ich im März kennen. Wir sind an einem Ort verabredet, an dem Robert Leistner etwas verloren hat. Aber das erfahre ich erst, nachdem wir fast zwei Stunden lang miteinander geredet haben. Der 32-Jährige ist frisch getrennt. Aus der Wohnung, die lange sein Zuhause war, wird er ausziehen. Wir sitzen in seiner Küche, Robert mahlt schweigend Kaffee, und über allem liegt noch der Duft der Zweisamkeit. Ich kenne diese Küche aus einem Kletterfilm. Robert schnipselt Salat, die Sonne scheint zum Fenster herein – im Hintergrund hört man ein Baby brabbeln. Es ist ein Film über die perfekte Kletterfamilie, Kilian ist gerade anderthalb. Vier Jahre ist das jetzt her. Bald wird Robert seinen Sohn nur noch jede zweite Woche sehen. Der Film handelt von einem Traum, der gerade geplatzt ist.
Nicht alles in seinem Leben hat der Klettersachse so gut im Griff wie den Fels. Aber Robert Leistner ist einer, der vor dem Risiko Fehler zu machen nicht zurückschreckt, der Grenzen ausreizt, um weiterzukommen. Bis zu einem Punkt, an dem es kein Weiter mehr gibt. Beim Klettern war dieser Gipfel vielleicht mit Circus Maximus erreicht. Im Elbsandstein wisse er nicht, womit er diesen Weg noch toppen soll, sagt Robert. Vier Tage hat er im Sommer 2012 mit der Wand gerungen. 40 Meter. Neun Ringe. Jeder Zentimeter eine Zerreisprobe. Was kommt danach? Das Motivationsloch. Der Rausch verfliegt und zurück bleibt ein Gefühl der Leere und Antriebslosigkeit. So, als ob die Welt mit jeder gewonnenen Route ein bisschen kleiner und flacher würde. Robert ist nicht der einzige Extremkletterer, der sich an seinen eigenen Träumen erschöpft. „Müde bin ich, geh zur Ruh“, will er seine letzte leistungsorientierte Erstbegehung nennen. Aber noch ist es nicht soweit.
„Früher war ich viel verbissener“, sagt der Dresdner. „Inzwischen habe ich gelernt abzubrechen, wenn sich eine Sache nicht gut anfühlt.“ 2004 ist das Jahr, das Robert Leistners Einstellung zum Klettern mehr prägen wird als jedes andere. 20 Meter stürzt der Kletterer am Schwager (Talweg, IXa) in die Tiefe – nur einer schier unglaublichen Portion Glück und einem halben Meter Luft zum Boden verdankt er sein Leben. Beckenprellung, gebrochener Ellenbogen. „Früher bin ich gerne gefährliche Wege geklettert – Routen mit Ausrufezeichen, Wege mit nur einer Begehung, Solotouren bis zur VIIIc“, erinnert er sich. „Plötzlich war dieser Reiz vorbei.“ Der Draufgänger in ihm habe den Sturz nicht überlebt.
Lebensmittelpunkt im Elbsandstein
Seitdem geht Robert Leistner keine blinden Risiken mehr ein – sondern kalkulierte. „Es muss sich lohnen“, wie er sagt. Die Qualität einer Route wird ihm wichtiger als die psychische Komponente und die Verlockung der Gefahr. Im Jahr darauf steigert sich Robert zu einer so kurz nach dem schweren Sturz kaum für möglich gehaltenen Form und macht seine meisten Erstbegehungen. Namhafte Routen wie „Cleopatra“ (Dompfeiler, Xc) oder „Tanzende Sterne“ (Wilde Zinne, Xb). 2006 folgt „David & Goliath“ (Dompfeiler, Xb) – eine sportliche Auseinandersetzung mit Altmeister Bernd Arnold. 2007: „Visionen gegen die Härte der Welt“ (Teufelsspitze XIa). Auch beruflich und privat schlägt der Dresdner in diesen Jahren neue Wege ein. Sein Sohn Kilian wird geboren, und er macht sich selbstständig. Seine heiß geliebten Brötchen verdient der gelernte Physiotherapeut die erste Zeit als Trainer für therapeutisches Klettern, später wechselt er das Fach und verdingt sich als Routenbauer bei deutschlandweiten Kletterwettkämpfen. Er habe, sagt er, schon immer den Ehrgeiz, Dinge zu perfektionieren. Und beim Routenbauen kann selbst Robert über die Kunst der Bewegung noch etwas lernen. Es gehört mehr dazu, als den Akkuschrauber rechtzeitig ans Ladegerät zu hängen. Wo ein Griff hinkommt, wie die Linie läuft – alles ist Teil einer ausgeklügelten Bewegungs-Dramaturgie. Bei Kletterwettkämpfen geht es nicht nur um Schwierigkeiten. „Es gibt auch eine künstlerische Herausforderung“, sagt Robert Leistner. „Es geht um die Show. Das Publikum will unterhalten werden.“ Dafür fährt Robert kreuz und quer durch die Republik. Ein paar Tage Dresden, dann ist er wieder unterwegs – Deutschlandcup in Hannover, Weltmeisterschaft in München, zwischendurch ein Kletterevent in Berlin.
Am Sonnabend vergangener Woche führt ihn sein Weg zurück zum Nonnengärtner. Unter dem dominanten Felsen in den Affensteinen versammelt sich ein Großteil der sächsischen Schwerkletterszene, rund 50 Leute, manche mit frisch gebügeltem Hemd und Krawatte – allen voran Robert Leistner mit Frack und Zylinder. Ein denkwürdiges Jubiläum steht an: In seinem Aufzug wie ein Pennäler beim Abiball legt Robert noch einmal Hand an die „geilste Wand von allen“: „Die Vertreibung der letzten Idealisten“, Schwierigkeit Xc. Mit der Erstbegehung dieser Route vor zehn Jahren sorgt er nicht nur im Kreis seiner Freunde für Furore. Die Öffentlichkeit wird auf den blonden Wuschelkopf aus Dresden aufmerksam. Bergsportmedien fragen nach. Eine Filmcrew dreht mit ihm Teile des Abenteuers für den amerikanischen Kletterfilm „The Sharp End“ (Am scharfen Ende, Regie: Peter Mortimer/Nick Rosen) nach. Für ihn selbst gewinnt der Weg auch eine politische Bedeutung: 2005 wird er mit Freunden in einer Boofe beim Feuern erwischt. Sie müssen pro Person 55 Euro Strafe zahlen. Für Robert fühlt es sich an, als hätten ihm Ordnungshüter in seinem eigenen Wohnzimmer ein Knöllchen verpasst. „Die Sächsische Schweiz war damals mein Lebensmittelpunkt, die Boofe mein Hauptwohnsitz, die Kirnitzsch meine Badewanne“, sagt er. Die Ernüchterung ist grenzenlos – ein Ideal, vielleicht geboren aus einem Kindheitstraum vom zwanglosen Leben im Wald, findet sein abruptes Ende. Es ist nicht so sehr der Verzicht aufs Lagerfeuer, sondern die symbolische Wirkung einer Geldbuße unter den freien Felsen und dem grenzenlosen Himmel. Kurz darauf gibt Robert der magischen Wand am Nonnengärtner ihren Namen: „Die Vertreibung der letzten Idealisten“.
Hier schließt sich der Kreis. In der Enge seines Anzugs klettert sich Robert Leistner am Sonnabend bei 30 Grad Hitze in seinem Lieblingsweg frei von allem, was ihn im Leben nach unten zieht. Ohne Sturz. Ohne den Zylinder zu verlieren. Ohne Blick zurück. Robert ist in seinem Element.
Mir gefällt der Toleranzgedanke bei Robert Leistner. Ohne Toleranz herrscht tatsächlich Krieg.
Interessant ist das auch Bernd Arnold ähnlich denkt.
Wir sächsischen Bergsteiger werden erst wieder ernst genommen wenn wir miteinander reden und vom Diktat des verdeckten Soloklettern uns verabschieden. Wir brauchen eine Ausgewogenheit von innerer und äußerer Sicherheit.Nicht nur Preuß hat unsere Väter inspiriert, sondern auch Dülfer. Sonst müssten wir alle Ringe ziehen. Zur Kletterethik gehört auch Voraussetzungen zu schaffen, dass die Zahl der tödlich Unfälle zurückgeht. Dann könnten wir auch in die Rotpunkt Szene das Sturz einplanen (also Ausbuldern) bevor dann der Rotpunkt Durchstieg geschafft wird, hinterfragen, als Rudiment Des technischen Kletterns. D.Grahl