Heim nach draußen

Mann mit Rucksack wandert über einen Wiesenhügel
Zweieinhalb Tage bis in die Sächsische Schweiz - Unweit vom Doberberg im Schönfelder Hochland. (Foto: Hartmut Landgraf)

Zum Reisen braucht es nicht viel: Nur ein bisschen Brot und Tee in einem alten Rucksack – und zwei gesunde Füße. So kommt man in zweieinhalb Tagen von Dresden ins Elbsandsteingebirge. Und sieht unterwegs ein schönes Stück Welt.

Alter Rucksack vor Elbbrücke
Start am „Blauen Wunder“ in Dresden. So wie einst John Muir – mit Brot und Tee und einem 50 Jahre alten Rucksack. (Foto: Hartmut Landgraf)

Manchmal wundere ich mich, wer diesen Unsinn eigentlich in die Welt gesetzt hat: Dass der Weg das Ziel wäre. Wer das glaubt, wird im Schönfelder Hochland schnell eines Besseren belehrt. In der Hügellandschaft nördlich von Dresden gibt´s zwar zig verlockende Wege, und alle sind – jeder für sich – auch sicher ganz hübsch zu wandern. Aber man muss schon wissen, wo man hinwill, sonst irrst du hier ewig zwischen sonnigen Anhöhen herum und kannst von Glück reden, wenn du noch vor dem jüngsten Tag in Wünschendorf rauskommst.

Mein Ziel ist klar: die Sächsische Schweiz. Endlich wieder. Seit Wochen herrscht überall Stillstand. Die Grenzen sind dicht. Busse und Bahnen fahren unregelmäßig. Reise- und Kontaktsperre. Langezeit durften wir gar nicht nach draußen, zumindest nicht aus der Stadt. Das Buch von Arto Paasilinna übers Sterben habe ich längst durch. Das Internet inzwischen auch. Aber das Virus hält die ganze Welt noch immer in Geiselhaft. Zeit sich zu bewegen.


Elbsandstein-Touren | Reisereportagen


John Muir hätte es genauso gemacht: Brot und Tee in einen alten Rucksack und dann ab über den Gartenzaun. Das waren seine Worte. Der große amerikanische Naturphilosoph (1838 – 1914) hätte niemals gewartet, bis irgendein Bus ins Elbsandsteingebirge fährt. Er wäre losgewandert. Mit nicht viel mehr als einer Decke im Gepäck. Die bitterkalten Aprilnächte im Schönfelder Hochland hätten ihn nicht aufgehalten. Am Wegrand schlafen, wenn´s kein Quartier gibt – was soll´s. Eine lächerlich kurze Strecke von zweieinhalb Tagen.

Alter Buchenwald, ein mit Stützmauern befestigter Weg windet sich am Hang entlang
Romantische Wege im Friedrichsgrund bei Dresden. (Foto: Hartmut Landgraf)
Knoblauchsrauke am Wegrand. (Foto: Hartmut Landgraf)

Durchs Schönfelder Hochland, bei Wasser und Brot

Mittwoch, 24. April: Ich starte bei Bilderbuchwetter in Dresden. Die Sonne scheint, der Flieder blüht, an der Elbe schenkt ein Imbisswagen kühles Bier aus – die Tour fängt prima an. Ich bin frisch und ausgeruht. Ganz anders mein Rucksack: der ist alt und grau. Runzliges Leder, verwitterter Leinenstoff, Altersflecken. Spuren eines langen, bewegten Lebens. 1975 hat ihn mein Vater im Kaukasus bis auf den Elbrus getragen. Und noch immer tut er seinen Dienst – seit fast 50 Jahren. Vielleicht müssen wir mal aufhören, solche Dinge unnötig zu verkomplizieren. Unsere Art zu reisen. Rucksäcke zum Beispiel. Lastkontrollgurte, Netzfächer, integrierte Trinkwasserbehälter, alles schön und gut. Aber ein einfacher Sack mit Trageriemen dran tut´s im Grunde auch. Nicht nur in dieser Hinsicht habe ich beschlossen, John Muir wörtlich zu nehmen. Brot gibt´s beim Bäcker am Blauen Wunder. Nur Brot, das muss reichen. Weiter packe ich nichts zu essen ein. Ein paar Teebeutel und Wasser. Einen Gaskocher für den Tee. Tasse, Schlafsack, Hängematte und ein paar Wechselsachen. Zusammengenommen zehn Kilo. John Muir wäre das sicher schon viel zu viel.


Route GPX-Download
Hier könnt ihr euch mit einem Klick die Route direkt aufs Smartphone laden. Vor dem Download bitte eine Outdoor-App installieren, z.B. outdooractive oder komoot.

Wo ist die Mitte der Sächsischen Schweiz?

Angenommen, man würde die Sächsische Schweiz von ihrem Sockel abtrennen, ein Stück hochheben und auf eine Nadelspitze setzen. Dann müsste es irgendeinen Schwerpunkt geben, wo die gewaltige Sandstein-Scheibe präzise austariert in Waage wäre – dieser Punkt ist ihre genaue Mitte. Dorthin will ich. Die Mitte ist nicht weit von Bad Schandau, hat Rolf Böhm ausgerechnet. Einfach, weil er neugierig war, wo sich das Zentrum seiner Welt befindet. Rolf ist Kartograf, wohnt in Schandau, und seine Welt ist die Sächsische Schweiz. Solche Fragen lassen ihm keine Ruhe. Seine Wanderkarten sind wegen ihrer Detailgenauigkeit Kult. Aber noch bin ich meilenweit vom Reich seiner Karten entfernt.

Während ich noch wandere, hat Rolf die Stelle schon mit weißer Farbe und einem Holzpflock im Gelände markiert. Und nur, damit ich nicht versehentlich daran vorbeilaufe und wir uns am Freitag auch ganz sicher dort treffen, habe ich etwas einstecken, was nicht so recht zu John Muirs Philosophie vom einfachen Wandern passen will: ein GPS-Gerät.

Wanderweg durch lichten Buchenwald
Idyllisch und einsam zieht er durch Wald und Flur: der Schönfeld-Weißiger-Bergweg. (Foto: Hartmut Landgraf)
Alte Brücke im Wald
Hier sieht es fast aus wie in einem Märchenfilm… (Foto: Hartmut Landgraf)
Mann auf einer Anhöhe, der Blick geht weit ins Land. Zwischen zwei Bäumen ist eine Hängematte befestigt.
Eine Nachricht nach Hause, und dann nur noch Fuchs und Hase gute Nacht sagen… (Foto: Hartmut Landgraf)

Zwischenfall am Doberberg

Den ganzen Tag geht´s wild und zuweilen verwunschen durch dichten Laubwald und stille Gründe, über romantische Brücken und lichte Hügel. Am Abend erreiche ich eine flache Anhöhe im Schönfelder Hochland, den Doberberg. Oben werfe ich den Rucksack ab. Natürlich hätte es auch ein Rapsfeld oder die Aussichtsbank getan. Die Natur am Doberberg hat einiges an Übernachtungsmöglichkeiten zu bieten. Aber es musste die Eiche sein. Was für ein Schlafplatz! Gleich hinter dem Baum fällt das Gelände zu einer Art Terrasse ab und öffnet sich für einen sagenhaften Rundblick. Wenn ich die Matte ein Stückchen höher als hüfthoch aufhänge, kann ich hier vom Bett aus weit ins Land schauen – bis zum Horizont, wo die Tafelberge des Elbsandsteingebirges golden in der Abendsonne leuchten. Ich knote eine Bandschlinge um einen der mächtigen Eichenäste und mache das andere Ende der Matte an einer kümmerlichen Birke fest. Kurze Zeit später ist das Tausendsterne-Quartier schon bezugsfertig. Ich klettere in den Schlafsack. Die Birke knarrt ein bisschen, dann ist sie still.

Ich weiß noch, dass irgendwo in der Ferne ein Käuzchen rief und mir die Augen zufielen…  Da passiert es! Kurzer Ruck. Harter Aufprall im Kreuz. Heftiger Schmerz im Rücken. Für eine Schrecksekunde steht meine Welt auf dem Kopf. Nur allmählich kehrt die Ordnung zurück. Stöhnend quäle ich mich aus einem Haufen von Schnüren, Zweigen und Insektengaze in die Höhe und stehe einen Moment lang benommen und barfuß in der Nacht. Über mir funkeln die Sterne. Die Matte hängt nur noch an der Birke fest. An der Eiche baumeln die losen Enden der Bandschlinge. Vom Knoten fehlt jede Spur…

Weite Wiesen, Elektrozäune, im Vordergrund grast ein Pferd
Bei sengender Hitze geht es, vorbei an Koppeln und Feldern, zur Schönen Höhe hinauf. (Foto: Hartmut Landgraf)

Unterwegs wie ein Land-Schleicher

Am nächsten Morgen geht´s bergab, mit dem Weg und mit mir. Der Sturz aus der Matte ist mir nicht gut bekommen. Jeder Schritt – ein Stich im Rücken. Ich stelze steifbeinig wie ein Storch über die Wiese. Dann elend langsam nach Wünschendorf hinein. Wenn das so bleibt, werde ich die Tour wohl nicht zu Ende laufen können. Zum Teufel mit John Muir und seinen asketischen Wandertrips! Die Morgensonne scheint das alles köstlich zu amüsieren, sie lacht über den ganzen Himmel. Erst am anderen Ende des Dorfes wird´s allmählich besser. Das Adrenalin hält die Schmerzen zunehmend in Schach, der Rücken fühlt sich nur noch taub an – und darüber bin ich fast froh. Irgendwie wird es weitergehen.

Dafür meldet sich jetzt der Durst. Es wird langsam Mittag. Die Sonne lacht schon längst nicht mehr, sie macht ernst! Erbarmungslos brennt sie vom Himmel herunter und verwandelt alle Wege zu Staub. Die Felder glühen, der Wald knistert. Kein Lüftchen regt sich mehr. Kein Insekt traut sich raus. Der Horizont flimmert wie ein Steppenbrand. Zwei Anderthalbliterflaschen Wasser gehen schnell zur Neige in den sächsischen Hügeln. Die Zunge klebt am Gaumen fest. Die Lippen platzen auf wie reife Tomaten. Die Abstände zwischen den Trinkpausen werden immer kürzer. In Elbersdorf stecken ein paar Kühe ihren Kopf missmutig und müde ins säuerliche Silagefutter. Ich fühle mich wie ein Seelenverwandter und muss aus irgendeinem Grund an Bolzenschussgeräte denken.

Zwei Aussichtsbänke, ein grandioser Rundblick über weite Teile des Elbsandsteingebirges
Endlich Elbsandstein! Kurze Rast am Hohburkersdorfer Rundblick. (Foto: Hartmut Landgraf)

Um Wasser betteln in Hohburkersdorf

Auf dem Breiten Stein kann man die geologische Grenze zwischen der Sächsischen Schweiz und der Lausitz mit Händen greifen. Granit und Sandstein, hier trifft eins aufs andere. Die Landschaft wird merklich trockener. Eichen, Birken und Buchen treten beiseite, um für Kiefern und Fichten Platz zu machen. Die Wege sind aus Sand. Oben bei der Schutzhütte ist Mittagspause. In meinem Fall – wieder mal Brotzeit. So langsam habe ich es satt. In der Rucksackhitze hat sich die frische Bäckerware binnen zwei Tagen in die reinste Henkersmahlzeit verwandelt: trocken Brot, wie es im Buche steht. Aber mein Hauptproblem ist das Wasser. Eine der beiden Flaschen ist schon leer, in der anderen ist nur noch ein lauwarmer Rest, der ölig und nach Plaste schmeckt. Der nächste Ort ist nicht mehr weit. Ich werde dort Klinken putzen gehen. Schlimmstenfalls bliebe der Löschteich.

Diese Kneipen haben geöffnet

In der Sächsischen Schweiz muss niemand verdursten! Hier gibt´s einen Imbiss und kühle Getränke >>> zur Übersicht

Irgendwo war ich unterwegs auf den Dittersbacher Rundweg gestoßen. Nun habe ich ihn wieder verloren. Ich achte kaum noch auf Markierungen. Irgendwann wird der Wald schon ein Ende haben. Die Kneipe in Hohburkersdorf hat erwartungsgemäß zu. Schräg gegenüber arbeitet ein älterer Mann im Garten. Ich rede ihn wie ein Bettler an: „Haben Sie Wasser?“ Der Mann grinst schelmisch, aber er stellt seinen Spaten weg und nimmt meine leere Trinkflasche. „Wohl abgehauen…?“, witzelt er „…vor Corona“.

Ein Mann sitzt in einer Hängematte, ringsherum Wald
Der Aufbruch am Morgen verzögert sich. Erstmal dem Vogelkonzert lauschen… (Foto: Hartmut Landgraf)
Felsschlucht mit Eisenstiege
Gedämpftes Tageslicht in der Wolfsschlucht am Hockstein. (Foto: Hartmut Landgraf)

Die zweite Nacht in der Hängematte

Elbsandstein! Wenn auch bloß eine Gartensparte. Unweit der Hocksteinschänke schlage ich mich seitwärts in die Büsche. Hier beginnt das Felsgebiet. Ein kleines lauschiges Buchengehölz lädt am Rand einer Wildwiese zum Übernachten ein. Dahinter stehen ein paar dunkle Lauben – John Muirs Gartenzäune, endlich. Und ein kurioser Begrenzungspfahl, mitten auf der Wiese. Die dazugehörige Straße ist einen halben Kilometer entfernt. Ich hoffe, das alles sind nicht bloß irgendwelche Trugbilder infolge meiner Dehydrierung.

Die Abenddämmerung taucht das Wäldchen in ein weihevolles Rot. Ich finde zwei passende Bäume, spanne die Hängematte dazwischen auf und quäle mich ächzend hinein. Die Vögel gehen gemeinsam mit mir schlafen, schon bald ist im Wald kein Laut mehr zu hören. Und dann kommen direkt über meinem Kopf in den Baumkronen die ersten Sterne zum Vorschein. Morgen werde ich beizeiten durch die Wolfsschlucht ins Polenztal absteigen. Rolf Böhm wird mir aus Schandau ein Stück entgegenkommen, gegen Mittag will ich am vereinbarten Treffpunkt sein. Mein Rücken muckt, die Schmerzen sind wieder schlimmer geworden. Aber sie lassen sich aushalten. Die Matte habe ich diesmal hüfthoch gehängt.

Altes Gasthaus, dahinter Sandsteinfelsen
Das erste Bier nach 40 Kilometern. Die Waltersdorfer Mühle im Polenztal hat geöffnet. (Foto: Hartmut Landgraf)

Zu guter Letzt doch noch ein Zaun

Das soll sie sein? DAS?! Entgeistert starre ich die Stelle an. Ich hatte sie mir als kühne Felswand vorgestellt. Als schimmernde Perlgrasinsel am Rand eines Bachs. Zumindest als irgendetwas Schönes und Prominentes. Ein Ausflugsziel. Die Mitte der Sächsischen Schweiz ist – salopp gesagt – eine Enttäuschung! Ein ranken- und dornenverfitztes Hangstück hinter einem Geröllschutzzaun. Eine Straßenrandnotiz. Die Lachsbachkurve von Rathmannsdorf.

Ein Mann mit Warnweste und Vermessungsgerät an einer Straßenböschung
Rathmannsdorf in der Lachsbachkurve. Hier ist sie: die genaue Mitte der Sächsischen Schweiz. Und der Mann, der sie errechnet hat: Kartograf Rolf Böhm. (Foto: Hartmut Landgraf)

Rolf Böhms Rechenweg

Wie berechnet man eigentlich den Mittelpunkt einer Landschaft? Der Bad Schandauer Kartograf Rolf Böhm erklärt es auf >>> dieser Seite!

Er habe das auch selbst ein wenig ernüchternd gefunden, gibt Rolf Böhm zu. Viel lieber wäre der Kartograf mit seinen Feldbüchern und Vermessungsgeräten in irgendeinen herrlich heimlichen Winkel der Sächsischen Schweiz gezogen und hätte ihn aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Pustekuchen! Nun muss er zufrieden sein, wenn dereinst vielleicht mal von der Straßenmeisterei eine schlichte Gedenkplakette an die Stützwand gedübelt wird. Und jemand im Vorbeifahren zufällig den Kopf danach umdreht.

Freilich kann man die Dinge auch anders sehen. Das eigentliche Erlebnis, das Abenteuer, entsteht immer aus dem Ungewissen. John Muirs Sprung über den Gartenzaun hatte kein Ziel. Es war ein Sprung ins Blaue. „Lauf los, egal in welche Richtung, und du spürst, wie dich das Unterwegssein frei macht.“, schreibt der Wanderpapst. „Erklimme einen Berg, und hör zu, was er dir erzählt. Der Frieden der Natur wird in dich hineinfließen wie Sonne in einen Baum.“ Schlussendlich war es so: Der Weg ist eben doch das Ziel. Ich bin zweieinhalb Tage gewandert, um an diesen Punkt zu gelangen. Nur um festzustellen, dass er die Reise nicht lohnt. Aber unterwegs habe ich ganz unverhofft ein schönes Stück Welt gesehen.

Zwei Männer hocken an der Straßenböschung Seite an Seite, am markierten Mittelpunkt der Sächsischen Schweiz
Nach zweieinhalb Tagen Wanderung, bleibt eine Erkenntnis: Das Ziel lohnt sich nicht, aber der Weg! (Foto: Hartmut Landgraf)

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