Treibgut

Wind und Wetter können auf dem Femunden schon mal nervtötend und beängstigend werden. Ein Kanuabenteuer auf Norwegens drittgrößtem See erfordert Zeit und Anpassungsvermögen. An manchen Tagen hilft da nur ein dickes Fell. Oder ein gutes Buch.

Über den Wind macht man keine Scherze. Nicht hier in Norwegen. Nicht auf dem Femunden. Die Betreiberin der Kanustation in Sorken hatte uns noch beim Abschied eindringlich vor ihm gewarnt. „Bleibt in Ufernähe“, hatte sie gesagt. Sollten wir in spätestens 14 Tagen nicht zurück sein, werde sie notfalls versuchen, über Handy zu uns Kontakt aufzunehmen. Sie war ehrlich besorgt. Meine Entgegnung, dass wir auf dem Grund des Sees wahrscheinlich keinen so guten Empfang haben würden, trug eindeutig nichts zur Entspannung bei.


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An meiner spöttischen Reaktion auf die gut gemeinte Warnung ist Bill Bryson schuld. Die Bücher des Reiseschriftstellers (u.a. „Picknick mit Bären“) können zwar nicht als seriöse Begleitlektüre für ernsthafte Wildnis-Unternehmungen gelten. Doch sie bringen nachweislich Spaß – auch in ungemütlichen Situationen. Ein 600 Seiten dicker Band mit dem ebenso nichts- wie vielversprechenden Titel „Eine kurze Geschichte von fast allem“ wirkt übrigens sehr lange! Genau der richtige Zeitvertreib auf einer wochenlangen Bootstour fernab von Netflix und anderer Unterhaltung. Nebenbei: Zeit zum Vertreiben haben wir hier mehr als uns lieb ist – Denn nun ist es passiert: Seit gestern sitzen wir fest! Auf einer Insel im Femunden, inmitten von hohen Brandungswellen und sämtlichen Fallwinden, die das norwegische Wetteramt kennt. Von Norden und Osten drücken finstere Sturmwolken herein. Uns bleibt nichts, als die Sache auszusitzen. Und nachzudenken, wie alles anfing.

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Ein See kriegt Gänsehaut

Mittwoch, 26. Juli – Mit den Launen des Wetters haben wir auf nordischen Gewässern schon reichlich Erfahrung. Ein aufziehender Sturm kündigt sich meistens ganz harmlos durch ein leichtes Kräuseln der Wasseroberfläche an, als würde sie eine Gänsehaut bekommen. Kurz darauf sind schon die ersten Kappelwellen da, die sich schnell zu immer höheren Wogen aufschaukeln. In nur zehn Minuten kann ein friedlicher See, der eben noch glatt und glänzend wie Silberfolie zwischen seinen Ufern lag, zu einem wutschnaubenden Ungetüm werden, das mit grimmigen Brechern und Schaum vorm Maul über die Bordwand herfällt.

Dana und ich lassen uns von solchen Temperamentsausbrüchen nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen. Der Femunden ist bei Weitem nicht der größte See, auf den wir uns in einem offenen Wander-Kanadier hinauswagen. Obwohl Norwegens drittgrößtes Binnengewässer, muss man ihn auf größeren Skandinavienkarten erstmal buchstäblich mit der Lupe suchen. Mit 200 Quadratkilometern ist er nur etwa halb so groß wie der Bodensee. Und neben dem stürmischen Inarijärvi, unserem bislang wildesten >>> Kanuabenteuer, wirkt er bei gutem Wetter kaum gefährlicher als eine Badewanne. Andererseits sind 200 Quadratkilometer Wasser für so ein kleines Boot noch immer eine große Fläche. An seiner breitesten Stelle liegen das Ost- und Westufer des Femunden neun Kilometer auseinander – Eine direkte Querung wäre viel zu riskant. Im Schutz der Uferlinie ist die Reise viel sicherer, doch beim Umrunden und Auspaddeln der unzähligen Landzungen und Buchten können sich neun Kilometer Luftlinie schnell zu 160 Kilometern Paddelstrecke und einem ausgewachsenen Zwei-Wochen-Rundkurs aufsummieren. Kommt dann noch Wind hinzu, wird das, was auf der Karten-App so hübsch unter eine Fingerkuppe gepasst hat, manchmal für Tage unbefahrbar.

Der erste Wettersturz erwischt uns schon gleich am zweiten Paddeltag unweit der Landzunge Litle Gråsneset: Nach ein paar vermeintlich harmlosen Böjen herrscht auf dem Femunden plötzlich binnen Minuten heftiger Seegang. Wir steuern das Kanu schräg in den Wind, sodass es den anrollenden Wellen möglichst wenig Angriffsfläche bietet – erst vom Land weg, dann wieder zum Land hin, immer im Wechsel. Doch irgendwann wird dieser Zickzackkurs zu anstrengend, der Tanz auf den Schaumkämmen zu heftig – gerade noch rechtzeitig entdecken wir steuerbords einen einsamen Flecken Sand zwischen den Uferfelsen und bringen uns im Schutz der Bucht in Sicherheit.

Zum Ausgleich beschert uns diese Notlandung einen der schönsten Lagerplätze auf der gesamten Tour. Es gibt einen kleinen Wildbach in der Nähe und ein paar gute Zeltplätze. Ein halbes Stündchen später hat sich der See schon wieder beruhigt. Bald liegt er glatt wie ein Spiegel vor unserer Bucht. Und während wir uns am Strand eine Pfanne Bohnen schmecken lassen, funkelt und leuchtet der Femunden wie ein Diamant in der Abendsonne. Wir sitzen noch lange am Ufer, um dieses Licht zu genießen. Erst kurz vor Mitternacht – als im Westen hinter dem Bärenberg der letzte rötliche Streifen verlischt – treiben uns die Mücken ins Zelt.

Zu Peder Røsten auf ein Bier

Freitag, 28. Juli – Wer auf dem Femunden paddelt, kommt an Peder Røstens Laden in Elgå nur schwerlich vorbei. Denn in diesem abgelegenen Winkel Norwegens sind nicht nur die Straßen und Ortschaften dünn gesät. Ganz besonders dürftig sieht es mit Einkaufsmöglichkeiten aus. Rings um den See gibt´s nur eine Handvoll Einödhöfe und Waldsiedlungen, die in aller Regel aus nicht viel mehr als einem Bootsanleger und einer Handvoll Holzhütten bestehen: Haugen, Synnervika, Femundshytta, Jonasvollen, Buvika…  Lediglich Elgå hat sich dank Straßenanbindung und Heimathafen des Traditionsdampfers Fæmund II zu einem Ort von touristischer Bedeutung mit der dazugehörigen Infrastruktur entwickelt. Es gibt ein kleines Hotel am Hafen, eine Lodge und zwei Campingplätze. Des Weiteren eine Tankstelle und das örtliche Besucherzentrum des Nationalparks. Letzterer erstreckt sich über weite Teile der Femundsmarka – fast 600 Quadratkilometer – und bildet zusammen mit den angrenzenden Schutzgebieten in Schweden einen der größten und letzten zusammenhängenden Flecken unberührter Natur in Südskandinavien.

Das kleine Dorf Elgå am Ostufer des Femunden hat sich zum touristischen Dreh- und Angelpunkt der Gegend entwickelt.

In einer solchen Gegend kann neben dem Gefühl der Abgeschiedenheit auch die Sehnsucht nach Süßigkeiten und eisgekühltem Dosenbier ziemlich groß werden. In dieser Hinsicht kommt uns Elgå nach einer knappen Woche in der Wildnis gerade recht. Die Sonne lacht uns ins Gesicht, als wir den Hafen erreichen. Schnell werden wir unseren Müll los, dann mache ich mich auf die Suche nach Peder Røstens Shop. Der Laden liegt nur ein kleines Stück außerhalb vom Ortszentrum direkt an der Landstraße. Drinnen gibt´s auf gut überschaubarer Verkaufsfläche buchstäblich alles, was man für den norwegischen Alltag braucht, vom Klopapier bis zum Angelhaken. Keine Viertelstunde später bin ich zurück beim Boot: um eine Tafel gesalzene Schokolade, zwei Gaskartuschen und zwei kleine Büchsen Starkbier reicher – und 440 Kronen ärmer (ca. 40 Euro). Unser Bedürfnis nach Zivilisation ist fürs Erste gestillt.

Das Passagierschiff Fæmund II bringt seit 1905 Fracht und Touristen über den See. Von den Landeplätzen am Ostufer führen heute zahlreiche Wanderpfade in den Femundsmarka Nationalpark.

Stor Hans´ens letzte Ruhestätte

Sonnabend, 29. Juli – Sandstrände findet man erstaunlich viele am Femunden. Immer wieder tun sich unterwegs hübsche kleine Buchten auf, aus denen es einladend leuchtet. Oft sind es nur ein paar Quadratmeter Sand – nicht gerade karibische Dimensionen – doch ab und zu trifft man auch größere Strände, mit guten Zeltmöglichkeiten direkt am Wasser! Einen solchen Platz entdecken wir, pünktlich wie bestellt zu Beginn des Wochenendes, ganz am Nordende des Femundsees auf einer idyllischen Landzunge namens Røstneset.

Eine flache Lagune schirmt die Südseite der Halbinsel zuverlässig gegen die Launen des Femunden ab. Wir steuern unser Kanu im Slalom zwischen glitzernden Granitblöcken hindurch über ruhiges Wasser zum Strand – und freuen uns wie die Schneekönige, dass wir den herrlichen Platz für uns alleine haben. Nach Süden öffnet sich ein atemberaubend schöner Blick auf das Massiv des Svuku Svahke. Direkt zu Füßen des sagenumwobenen Bergs liegt eines der bekanntesten und südlichsten Rentierweidegebiete Norwegens, seit alter Zeit samischer Kulturraum, wo sich noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Trapper, Fischer und allerlei kauzige Abenteurer wie in einem Jack-London-Roman in selbstgebauten Blockhütten vor der Welt verstecken. Wir fühlen uns hier für den Moment so frei und glücklich wie Kinder, die sich in einer spannenden Geschichte verlieren.

Wovon wir nichts ahnen, ist die Legende von Stor Hans. In den Dörfern am Femunden stößt man irgendwann unweigerlich auf seinen Namen. Stor Hans war ein Aussteiger, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an verschiedenen Stellen in der Femundsmarka gehaust hat, bekannt für seine riesigen Körpermaße und seine nicht minder ausgeprägte Neigung für hochprozentige Destillate. Seinen Lebensunterhalt soll er sich als Lastenträger und Fremdenführer verdient haben. Über den Grund seiner Zurückgezogenheit kursieren allerlei Gerüchte in der Gegend. Eine lokale Webseite spricht recht nebulös von „mehr oder weniger strafbaren Handlungen.“ Jedenfalls tat Stor Hans irgendwann fernab von solchem Gerede an einem einsamen Fleck in der Wildnis seinen letzten Atemzug. Seinen Leichnam fand man am 27. Oktober 1946 auf der Halbinsel Røstneset. Wir verbringen die Nacht gewissermaßen auf dem Sterbebett eines Einsiedlers.

 Ein Gefühl wie in des Königs Badehaus

Dienstag, 01. August – Noch immer staunen wir auf Schritt und Tritt über den ökologischen Reichtum hier draußen. Jede kleinste Nische ist besetzt, jeder noch so winzige Felsspalt wird von jemandem bewohnt. Allein schon die Vielfalt der Bodenkräuter ist beeindruckend – lauter zerbrechliche Gewächse mit filigranen Blättchen und Zweiglein, die sich unter Aufbietung aller Kraft an irgendeine kaum sichtbare Existenzgrundlage klammern. Leben in den seltsamsten Formen: Man sieht winzige Trompeten und Geweihe, wunderschöne Korallen und Schwämme, bunte Moos- und Flechtenteppiche, grazile Pinsel- und Irokesenkopfgewächse, die kaum einen Daumenbreit aus der Erde gucken und irgendeinen Daseinszweck erfüllen. Dazwischen abgestorbene Zweige und halb zerfallene Zapfen, von Pilzen und Spinnweben überzogen, von Ameisen und Käfern überrannt. Jeder Quadratmeter Wildnisboden ist so unermesslich und spannend wie ein ganzes Universum.

Es tut fast weh, in klobigen Bergschuhen darauf zu treten. Als würde man ungeniert über einen heiligen Teppich stiefeln. Ich muss oft an einen meiner Lieblingsdialoge in der Netflix-Saga „Vikings“ denken. Ein Kundschafter stürmt unangemeldet in König Egberts Badehaus. Er bringt alarmierende Neuigkeiten. Ein Wikingerschiff ist vor der Küste Englands aufgetaucht, es droht ein Angriff. Der König indessen blickt dem Boten nur entrüstet auf die Füße und fährt ihn zornig an: „Was um alles in der Welt hat dich geritten, mit deinen Dreckstiefeln hier herein zu spazieren?“ Genauso fühle ich mich manchmal inmitten all der zerbrechlichen Schönheit: Wie jemand, der die intimsten Orte und Heiligtümer der Natur mit Füßen tritt.

Unter lauter verdrehten Typen

Freitag, 04. August – Zurück zu unserer einsamen Insel und Bill Bryson: Wir liegen im Zelt und können nichts machen. Gestern Nachmittag hat uns der Wind an Land geworfen. Laut Wetter-App sollte es nur eine „leichte Brise“ werden. Der Ärger über diese Herabsetzung ist ihm deutlich anzumerken: Er pfeift und heult die ganze Nacht wie ein Besessener um uns herum – als ob wir an der Vorhersage schuld wären, stachelt den Femunden gegen uns auf, sodass er vor Wut kocht und schäumt und die Felsblöcke am Ufer mit Gischt und Geifer bespuckt. Regen trommelt hart aufs Dach. Unser Zelt bläht sich auf wie ein straff gespanntes Segel im Sturm, die Wände knattern und schlagen, die Leinen singen ein klägliches Lied.

Wind und Wetter können einem in Norwegen schon mal die letzten Nerven rauben. An manchen Tagen helfen da nur Geduld und ein dickes Fell. Oder eben – ein gutes Buch! Dank Bill Bryson ist meine Laune bereits zum Frühstück wiederhergestellt, sodass ich unsere Notunterkunft etwas genauer in Augenschein nehme. Die Insel ist knapp 1000 Quadratmeter groß, fast kreisrund und ringsum gut beschützt von Blöcken und Steinen, die sie gegen die Gewalt der anrollenden Wellen abschirmen. Außer uns gibt´s auf dem kargen Flecken Land noch ein paar andere Asylanten: 34 arg zerzauste Kiefern, drei halbtote Birken, einen kleinen Ameisenhügel, mindestens eine Spinne – und eine erstaunlich große Zahl an Mücken. Besonders die Bäume haben es mir angetan. Man sieht, dass sie auf dem windigen Eiland einen schweren Stand haben. Die meisten von ihnen werden zeitlebens über den Status von Gestrüpp nicht hinauskommen. Und so ein Leben kann hier draußen sehr schnell zu Ende sein. Was sich vorschnell aus der Deckung wagt, wird vom Wind gnadenlos abgebrochen und gefällt. Die Kiefern haben dagegen einen Trick entwickelt: Sie verdrehen sich wie Korkenzieher und stehen dadurch stabiler auf ihren Füßen. Den Birken geht es um einiges schlechter. Ihre Exitenz steht buchstäblich auf der Kippe.  Für uns aber ist die erbärmliche Runde ganz tröstlich: Wir sind nicht alleine, sondern unter lauter schrägen und verdrehten Typen, die den Sturm genauso aushalten müssen wie wir. Sozusagen in bester Gesellschaft.

2 Kommentare zu Treibgut

  1. Hallo Hartmut und Dana, wie immer war Euer Reisebericht ein Leckerbissen für die Seele, dieAugen, und Hartmuts in den Bann ziehende Erzählweise ist das Sahnehäubchen obendrauf. Gruß Fröhli

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