Abschied von Sachsens größtem Baum

Jahrelang sah es so aus, als sei sie kräftig genug, dem Borkenkäfer zu widerstehen – die 60 Meter hohe Riesenfichte in der Kirnitzschklamm. Nun sind auch ihre Tage gezählt.

Das Jahr 1620 ist in vielerlei Hinsicht ein Jahr großer Veränderungen. In Amerika landen puritanische Pilgerväter mit der legendären „Mayflower“ an der Küste Neuenglands. In Europa herrscht Krieg – er wird 30 Jahre lang dauern. Venedig, Frankreich, Österreich und Spanien ringen um die Kontrolle der Bündner Alpenpässe. Der sächsische Kurfürst Johann Georg I. belagert Bautzen. Das böhmische Stände-Heer unterliegt den Truppen der Katholischen Liga in der Schlacht am Weißen Berg. 25 Jahre danach erblickt auf Burg Rabenstein bei Chemnitz Hans Carl von Carlowitz das Licht der Welt – der später ein Buch schreiben wird, welches den Grundstein für die Prinzipien der modernen Forstwirtschaft legt und der als Erster den heute zum Modewort avancierten Begriff Nachhaltigkeit benutzt.

Da war ihre Krone schon angegriffen und stellenweise licht. Mitte November 2020. (Foto: Hartmut Landgraf)

In diesen bewegten Zeiten keimt gut versteckt in einer tiefen Schlucht bei Hinterhermsdorf im Elbsandsteingebirge, nah am Ufer der Kirnitzsch, ein winziger Spross aus einem Fichtensamen. Im Laufe von Jahrhunderten wird er in seiner schwer zugänglichen Talnische, unbehelligt von Waldarbeitern und Holzfällern, zum größten Baum Sachsens heranwachsen – zu einer gewaltigen, 60 Meter hohen Fichte, die zwei Männer nicht umfassen können, mit einem Stammumfang von fast viereinhalb Metern. Zuletzt gehörte dieser Riese seit nunmehr 30 Jahren zu den eher still gehüteten Schätzen des Nationalparks Sächsische Schweiz.

Trotzdem wurde jetzt jemand auf ihn aufmerksam, der ihm niemals hätte zu nahe kommen dürfen: Ips typographus – der sogenannte „Buchdrucker“, ein kleines, gefräßiges Insekt aus der Familie der Fichtenborkenkäfer. Selbst nur etwa vier Millimeter groß, wird der Käfer unter bestimmten Bedingungen mühelos mit jeder ausgewachsenen Fichte und sogar ganzen Wäldern fertig: Trockenheit und massenhafte Vermehrung. Beides wurde in den letzten drei Jahren nicht nur in der Sächsischen Schweiz, sondern in ganz Mitteleuropa zu einem immensen Problem mit verheerenden Folgen für die gesamte Forstwirtschaft. Überall in Deutschland fallen die Fichtenwälder der massenhaften Ausbreitung des Borkenkäfers zum Opfer. Betroffen sind aber längst nicht mehr nur die alten, jahrzehntelang in Monokultur bewirtschafteten Forste, wo die Insekten ein wahres Schlaraffenland vorfinden, sondern auch vitale Fichten in besser durchmischten oder sogar in „naturnahen“ Wäldern wie der Kirnitzschklamm. Seit mehr als 50 Jahren steht die Schlucht unter Naturschutz. Hier entfaltet sich ein Artenspektrum, das seinesgleichen sucht: Silbrig ragen schlanke Tannen neben grau-braun geschuppten mächtigen Fichten. Dazwischen wächst Hainbuche, Hasel, Bergahorn und Grauerle. Baumpilze kleben an moosgrünen Stämmen wie festgebackene Fladen. Ein Tal wie im Urzustand. Auch der Borkenkäfer gehörte dazu. In einem intakten Ökosystem ist er ein ganz normaler Zeitgenosse, der vielleicht einzelne Bäume befällt, aber keine ganzen Wälder vernichtet. Nun entwickelt er sich selbst hier – zum Feind.

Die inzwischen allseits bekannten Zeichen für den baldigen Tod einer Fichte – ein dickes Polster aus herabgerieselten, vertrockneten Nadeln. Oktober 2020. (Foto: Hartmut Landgraf)
Den Nachbarn der Riesenfichte hatten Borkenkäfer schon vor Jahren den Garaus gemacht. September 2015. (Foto: Hartmut Landgraf)

Der Tod war zuletzt immer näher an die alte Fichte herangerückt. Schon vor fünf Jahren gab es in ihrem Umfeld die ersten bedrohlichen Signale für dieses unausweichliche Ende: mehrere stattliche Fichten – vertrocknet und kahl, von ihren Stämmen hing die Rinde in Fetzen herunter. Ein naher Verwandter des Buchdruckers, der Fichtenbastkäfer, hatte den schwächeren Nachbarn des Riesenbaums den Garaus gemacht. Im Herbst 2020 dann schließlich auch bei ihm die allseits bekannten Zeichen: ein dickes, gelbgrünes Bett aus herabgerieselten Nadeln. Zuletzt, Mitte November, sah seine Krone schon merklich kahl aus.

Dabei hatte es eine Weile den Anschein, als könne der 400 Jahre alte Methusalem mit seinem fast steinharten Borkenpanzer allen Angriffen standhalten. So nah am Wasser und gut geschützt gegen Stürme, strotzte der Baum trotz seines Alters nur so vor Kraft, trug in den vergangenen Jahren wiederholt über 200 Zapfen und hätte wohl noch gut 200 Jahre weiterleben können. Doch offensichtlich fanden die Angreifer weiter oben am Stamm und im Kronenbereich Schwachstellen. Und nun sind auch seine Tage endgültig gezählt.

Zwei Borkenkäfer in ihren Fraßgängen unter der Rinde. Das Foto entstand 2019 im Großen Zschand. (Foto: Hartmut Landgraf)

Auch das Jahr 2020 ist in vielerlei Hinsicht ein Jahr großer Veränderungen. Ein Virus – noch um ein Vielfaches winziger als der Borkenkäfer – hat die ganze Welt lahmgelegt. Und wir können beobachten, dass es nicht die großen und vermeintlich unerschütterlichen, sondern oftmals die allerkleinsten und kaum wahrnehmbaren Dinge sind, in denen die Kraft zu gewaltigen Umwälzungen wohnt. Ob zum Guten oder zum Schlechten – die Fichte wird es nicht mehr erleben. 400 Jahre nach der Mayflower und der Schlacht am Weißen Berg wird ein Holzbetrieb ein paar Fachleute mit Sperrbändern und schwerem Säge-Gerät in die Kirnitzschklamm schicken und mit einer Notfällung eine Gefahr aus dem Weg räumen. Direkt unter dem tonnenschweren Haupt der Fichte schlängelt sich der einzig noch zulässige Wanderweg durch die geschützte Kirnitzschklamm. Was das bedeutet und wann etwas passieren muss, „hängt von der Stabilität des Baumes ab“, sagt Nationalparksprecher Hanspeter Mayr. Mehr sagt er nicht.

So wie hier im Sommer 2019 im Thorwald sieht es mittlerweile in weiten Teilen der Sächsischen Schweiz aus. (Foto: Dana Landgraf)

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