Vergessen von der Zeit

Altmeister Hermann Krone fotografierte 1884 eine Riffkiefer in der Sächsischen Schweiz. An genau der gleichen exponierten Stelle steht auch heute eine Kiefer – ebenso groß, ebenso dick. Schierer Zufall? Ein direkter Nachfahre? Oder womöglich sogar noch derselbe Baum?

Kiefern sind richtig gut im Understatement. Im Hinblick auf Lebenskraft, Festigkeit und Stehvermögen können sie es locker mit jeder noch so mächtigen Buche aufnehmen. Buchen machen sich zwar breit und wichtig, stellen andere Bäume in den Schatten, leben über ihre Verhältnisse, veranstalten Saufgelage, wenn´s mal regnet und tun überhaupt so, als würde der Wald ganz allein ihnen gehören. Kiefern stattdessen nehmen, was sie vorfinden, begnügen sich, wenn´s sein muss, mit den allerschlechtesten Plätzen und hören einfach auf zu wachsen, wo es nicht viel zu holen gibt. Doch kleinkriegen lassen sie sich nicht.

Gerade deswegen fallen sie auf. Dafür gibt es in der Sächsischen Schweiz einige prominente Beispiele. Sie haben auf Facebook und Instagram inzwischen solche Bekanntheit erlangt, dass sie dort manchem Genie der Selbstinszenierung klar den Rang ablaufen – wirken daneben aber unverändert bescheiden und authentisch. Doch nun ist ein Foto aufgetaucht, das aus der Kiefer bei aller Bescheidenheit eine kleine Sensation macht – aus einer Kiefer!

Hermann Krone, um 1884, „Aussicht vom kleinen Winterberge“, Historisches Lehrmuseum für Photographie (c) Hermann-Krone-Sammlung, IAPP, TU Dresden

Aufgenommen wurde es vor fast anderthalb Jahrhunderten von einem Meister seines Fachs: 1884 von Hermann Krone. Der sächsische Foto-Pionier ist einer der frühen Wegbereiter der Landschaftsfotografie. Von ihm stammen die ersten bekannten Aufnahmen der Sächsischen Schweiz, aber auch einzigartige Bilder aus anderen Gebirgen der Welt – so z.B. eines der ältesten Fotos aus dem Yosemite-Valley, USA. Ein Mann, der einen untrüglichen Blick fürs große Panorama hatte. Das sieht man seinen Bildern an, auch jenem aus dem Jahr 1884. Aufgenommen im Gebiet des Kleinen Winterbergs, im Vordergrund ein fast blankes Riff, nur mit etwas Moos und Heidekraut bewachsen. Und mittendrin in einer Felsscharte: ein einzelnes kleines Bäumchen, eine Kiefer. Dahinter das grandiose Amphitheater des Kleinen Zschands mit dem Hinteren Raubschloss, den Pechofenhörnern und dem Teichstein in der Ferne. Der Fichtenwald, damals noch jung und niedrig, reicht den Felsen gerade mal bis zum Fuß. Viel hat sich seitdem im Kleinen Zschand verändert. Die Fichten wurden groß und stattlich und beherrschten das Tal. Manche Felswand verschwand im Grünen. Dann kam der Borkenkäfer. Jetzt stirbt der Wald. Geblieben von den Bäumen auf Krones Foto ist nur ein einziger: die kleine Riffkiefer in der Mitte. Beinahe unverändert steht sie dort – einsam und struppig, mit einem Knick in der Mitte. Ihre Krone ist heute etwas breiter, so als habe sie die dünnen Arme nach beiden Seiten ausgestreckt. Ansonsten ist sie augenscheinlich keinen Zentimeter gewachsen.

Der heutige Blick aus Krones Perspektive. (Foto: Hartmut Landgraf)

Bäume haben ein anderes Zeitmaß als wir, aber dass 137 Jahre spurlos an einem lebendigen Geschöpf vorübergehen – wie ist sowas möglich? Ist es nicht! Denn beim genauen Hinsehen fällt auf, dass sich der Standort der heutigen Kiefer geringfügig von jenem ihres Doubles auf dem Krone-Foto unterscheidet. Damit ist aber nur klar, dass es sich nicht um ein und denselben Baum handeln kann. Fast noch verblüffender ist jedoch die Erkenntnis, dass demzufolge wenige Jahrzehnte nach dem Krone-Baum eine zweite, ganz ähnliche Kiefer in derselben armseligen Felsnische herangewachsen ist. Wie ist sie dort hineingelangt? Ist sie mit der alten Kiefer verwandt, womöglich ein direkter Nachfahre? Oder der Spross eines fremden, vom Wind herbeigewehten Kiefernsamen, der aus purem Zufall an fast haargenau der gleichen grenzwertigen Stelle aufgegangen ist – auf einem der ärmsten und trockensten Felsriffe weit und breit? Beides wäre ein Geniestreich der Natur.

In 50 Jahren drei Millimeter

Ronny Goldberg traut der Kiefer beides zu. Der Landschaftsökologe arbeitet als Artenexperte in der Nationalparkverwaltung Sächsische Schweiz – und die zwergenhaften, verkorksten Elbsandstein-Riffkiefern gehören zu seinen wunderlichsten Schützlingen. „Die Kiefer kann mehr als andere Baumarten“, sagt er. „Sie verkraftet Frost genauso wie Dürreperioden. Sie kann im Moor wachsen, mit den Füßen im Wasser. Oder an extrem trockenen Standorten, wo sie sich das Wasser mit ihren tiefen Wurzeln aus der allerletzten Ritze holt.“ Riffkiefern machen das Beste aus ihren Bedingungen, nehmen vom Leben, was sie kriegen können und stecken alle Kraft in das bisschen Wachstum, das an so unwirtlichen Orten möglich ist. Und wenn´s mal ganz eng mit den Ressourcen wird, hören sie einfach auf zu wachsen – manchmal über Jahre oder gar Jahrzehnte. Das ist wissenschaftlich erwiesen. So verwundert es nicht, dass es Kiefern im Elbsandsteingebirge gibt, die im stolzen Alter von 200 Jahren kaum größer als ein Straßenschild und dünner als ein Ofenrohr sind. In einer 2010 an der TU Tharandt eingereichten >>> Dissertation fand Forstwirt Marek Schildbach heraus, dass Elbsandstein-Kiefern an extremen Standorten in Bezug auf Zwergwuchs sogar die Kiefern an der arktischen Waldgrenze übertreffen. Zwei Drittel aller für die Studie untersuchten Bäume waren echte Kümmerlinge. In einem Fall war eine Riffkiefer in 50 Jahren nur knapp drei Millimeter gewachsen. Eine andere war in 190 Jahren kaum vier Meter groß geworden. Folglich existieren also in der Sächsischen Schweiz tatsächlich noch Riffkiefern aus Hermann Krones Zeiten – und sie dürften sich optisch auch nicht allzu sehr verändert haben. Nur der Baum, den Krone 1884 fotografierte, ist inzwischen Geschichte.

Aber vielleicht hat er einen Erben eingesetzt. Vielleicht ist der Nachfolger, der den unwirtlichen Platz auf dem Riff heute für sich beansprucht, ein genetischer Verwandter der Krone-Kiefer. Nationalpark-Experte Ronny Goldberg hält das für durchaus denkbar. Und es sei auch „einen Tick wahrscheinlicher“, als dass ein unsteter Dritter Vater des Geschehens war – der Wind.

Vielleicht hat uns Hermann Krone mit seinem längst vergessenen Foto vom Kleinen Winterberg also ungewollt eine dendrologische Familienchronik hinterlassen. Das wäre doch eine schöne Geschichte. Und natürlich wäre es auch spannend zu erfahren, wie es mit der nächsten Kiefern-Generation auf dem Riff weitergeht. Nur werden wir uns dafür wohl noch eine ganze Weile gedulden müssen. Womöglich anderthalb Jahrhunderte.

Steckbrief zur Kiefer

  • Name und Verbreitung: Gemeine Waldkiefer (lat. Pinus sylvestris); das Verbreitungsgebiet umfasst Europa bis weit nach Sibirien.
  • Lebensraum: Arme, trockene Böden auf sandigen und moorigen Standorten, im Elbsandstein u.a. auf Felsriffen. Waldanteil: Sachsen 30%, Sächsische Schweiz 14%.
  • Bestand: Die älteste wissenschaftlich untersuchte Kiefer im Nationalpark Sächsische Schweiz war 2010 bereits über 300 Jahre alt und stand in den Thorwalder Wänden. Sie ist vor ein paar Jahren leider abgestorben. Es gab auch schon mal eine 500 Jahre alte Kiefer im Elbsandsteingebirge – die legendäre Königskiefer im Polenztal. Die größte heute noch lebende Kiefer (44,5 Meter hoch) befindet sich ebenfalls im Polenztal.
  • Schutzstatus: Nicht der Baum selbst ist im Nationalpark besonders geschützt, aber die als wertvoll angesehenen Riffbiotope, wo er wächst. Dort gibt es nämlich auch noch andere Raritäten – zum Beispiel die in unseren Breiten äußerst seltene Krähenbeere, die sonst nur in arktischen Gefilden vorkommt. Die kleinen Naturwaldinseln auf den Felsriffen waren mit ausschlaggebend für den Status „Nationalpark“. Nicht grundlos befinden sich heute viele Riffe im Gebiet der besonders streng geschützten Nationalpark-Kernzone.

3 Kommentare zu Vergessen von der Zeit

  1. Ein schönes und interessantes Thema. Ich fotografiere sei vielen Jahren Wetterkiefern und bin immer wieder beeindruckt von ihrem Durchhaltevermögen.
    Dazu eine schöne Würdigung H. Krones. Ja, von den Alten kann man viel lernen.

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