Lynn Hill: „Am Fels bin ich bei mir“

Die Spitzenkletterin im Gespräch

US-Kletterikone Lynn Hill, Foto von Heinz Zak
Hände, die die Welt veränderten. Kaum jemand hat die Entwicklung des Klettersports so beeinflusst wie die Amerikanerin Lynn Hill. (Foto: Heinz Zak)

Nur wenige haben die Entwicklung des Kletterns so vorangetrieben, wie die Amerikanerin Lynn Hill. Heute ist die Spitzenkletterin mit 53 Jahren eine lebende Legende. Doch in ihrer Beziehung zum Sport hat sich manches verändert. Ein Gespräch über Traditionen, die Kehrseiten des Outdoor-Hypes und Erfahrungen, für die es sich zu klettern lohnt.


Graue Novemberwolken ziehen über die Tafelberge der Sächsischen Schweiz. Zum Klettern ist es zu kalt und zu nass. Lynn Hill trägt eine neonfarbene Daunenjacke. Sie liebt warme Gegenden, erzählt sie später. Ihr Händedruck überrascht mich, er ist nicht so fest, wie ich dachte. Diese Hände haben die Welt verändert – zumindest aus Sicht der Bergsportgemeinde. Doch äußerlich verrät kaum etwas an Lynn Hill die Extremkletterin, die sie ist. Von Statur ist die Amerikanerin eher klein und schlank – Durchschnitt, beinahe zierlich. Nur ihre Augen sind ungewöhnlich wach und klar. Und manchmal huscht über ihre Mundwinkel ein harter Zug, der von den Strapazen zu erzählen scheint, die sie in den Bigwalls der Welt ausgestanden hat. Wir treffen uns auf der Festung Königstein.

Lynn, die Festung Königstein ist für Kletterer historischer Boden. An der Außenmauer gibt es eine legendäre Route. Kennst du sie?

Man hat mir schon erzählt, dass hier irgendwo ein Mann einen Kamin hochgeklettert sein soll. Aber ich kenne die Route nicht.

Sie befindet sich auf der Ostseite der Festung, geht zuerst durch einen Felskamin, dann die Wand hoch und über die Mauerkrone. 1848 kletterte ein junger Schornsteinfeger namens Sebastian Abratzky dort ohne Seil und Hilfe hoch. Seinerzeit war es ein Husarenstreich. Fünf Tage Festungshaft bekam er dafür aufgebrummt. Seine Route aber ist eine der ältesten überhaupt in der Welt. Und die Sachsen klettern sie bis heute.

Ohne Seil?

Einige bestimmt. Die Leute hier nehmen es mit ihren Traditionen ziemlich genau.

Ja, ich weiß. Ich war schon einmal im Elbsandsteingebirge. Das ist Jahre her, aber ich kann mich noch gut erinnern. Damals bin ich mit Bernd Arnold geklettert.

Klettern im Elbsandstein ist sehr speziell. Manche finden den Stil zu konservativ und nicht mehr zeitgemäß – kein Chalk, keine Friends oder Klemmkeile, keine Bohrhaken. Es gibt rustikale Eisenringe in den schweren Routen, aber die Abstände zwischen den Sicherungspunkten sind vergleichsweise groß. Und Wege in den unteren Schwierigkeitsgraden muss man mit Seilschlingen selbst absichern.

Ja, das ist ein besonderer Stil, unverwechselbar und abenteuerlich. Man nimmt Rücksicht auf den Fels – das finde ich gut…

Liegt dir der sächsische Stil?

Also, ich weiß nicht… Einerseits gefällt er mir, und ich denke, dass ich ihm gewachsen bin. Ich kann das Risiko einschätzen und damit umgehen. Andererseits lege ich Wert auf Sicherheit und bevorzuge kurze Sicherungsabstände in schweren Routen. Außerdem würde es mich nervös machen, einer Knotenschlinge zu vertrauen. Daran bin ich nicht gewöhnt.

Lynn Hill klettert die Nose, Foto von Heinz Zak
1993 – der Paukenschlag: Lynn Hill gelingt die erste Rotpunktbegehung der „Nose“, einer sagenhaften 1000-Meter-Wand am El Capitan im Yosemite-Valley/USA.
(Foto: Heinz Zak)

Als du dich vom Wettkampfklettern verabschiedet hast, war es da nicht genau diese traditionelle Art des Sports, zu der du zurückwolltest?

So kann man das nicht sagen. Ich klettere gerne traditionell, aber ich bin auch Sportkletterin. Ein Mix aus beidem. Im Grunde kommt es darauf an, wo ich gerade unterwegs bin. Jede Region hat ihre Besonderheiten. Im Eldorado-Canyon in Colorado zum Beispiel lege ich meine Sicherungen selbst. So auch in den Shawangunks an der Ostküste – wo es bis heute überhaupt keine Bohrhaken gibt. Die Wahl der Sicherungsmittel richtet sich nach der Beschaffenheit des Felsens. In den Gunks sind im Gestein viele horizontalen Risse, das bietet sich für Klemmgeräte an. Die schwersten Routen sind aber oft sehr glatt, sodass einem Friends und Keile dort nichts nützen.

Was kletterst du am liebsten?

Technisch anspruchsvolle Routen. Ich mag lange Wege – Bigwalls, Routen, die Ausdauer erfordern, wo es auf Gespür und Körperbeherrschung ankommt. Bouldern ist dagegen eine komplett andere Welt. Es ist eine sehr dynamische und kraftvolle Art zu klettern. Ich kann das, aber mir liegt das andere mehr.

Missfällt dir die Entwicklung, die das Klettern nimmt?

Ich glaube, das größte Problem ist, dass heute Massen von Leuten diesem Sport nachgehen. In den Gunks zum Beispiel spürt man das. Das Gebiet liegt inmitten von großen städtischen Ballungsräumen, in denen es nur wenig Natur gibt – zwischen New York City, Pennsylvania und New Jersey. Am Wochenende ist es dort unglaublich überlaufen. Dieser Andrang muss gemanagt werden, das heißt, es gibt Wegegebote, Toiletten und Regeln. Neuerdings muss man Eintritt bezahlen.

Warum stört dich das? Weil du dem Pulk nicht ausweichen kannst? Weil die Natur darunter leidet?

Beides. Für beliebte Routen muss man heute buchstäblich anstehen, das macht keinen Spaß. Und wo Massen von Leuten unterwegs sind, wird es immer Einzelne geben, die ihrer Umwelt gegenüber gedankenlos handeln, die keine Rücksicht auf die Natur nehmen, Lärm verursachen und ihren Müll rumliegen lassen. Man findet zwar immer irgendeinen stillen Winkel zum Klettern, aber die Gunks sind nicht mehr so frei, wie sie mal waren.

In den 70ern war das anders. Da haben die Kletterer im Yosemite-Valley wie in einer Hippie-Kommune gehaust…

Das kann man so sagen, ja. Camp 4 war eine Art internationale Kommune. Auch dort hat sich vieles verändert. Es gibt haufenweise Regeln und Beschränkungen. Es ist nicht erlaubt, länger als zwei Wochen am Stück zu bleiben. Die Ranger des Nationalparks haben auf alles ein Auge. Heute kann es dir an der Nose passieren, dass zwei oder drei Seilschaften über dir klettern. Eine gefährlich Sache in Bigwalls. Wenn ein paar Hundert Meter über dir jemand aus Versehen irgendetwas abbricht oder fallen lässt, kann dich das umbringen.

Du selbst wirbst doch aber für den Klettersport und trägst somit dazu bei, dass seine Popularität ständig wächst.

Ja, das stimmt.

Wie passt das zusammen?

Es liegt nicht am Sport. Und Klettergebiete gibt es zur Genüge. Aber es kann problematisch werden, wenn viele zur selben Zeit am selben Ort sein wollen. Wer bereit ist, für seinen Sport längere Wege auf sich zu nehmen, weiter zu laufen als andere – in Gebiete zu gehen, über die noch niemand einen Führer geschrieben hat, der findet definitiv auch noch genügend Abenteuer und Felswände, wo noch niemand gewesen ist. Zum Großteil kommt der Schub, der den Sport heute so ungeheuer populär macht, auch eher vom Indoorklettern und Bouldern.

Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest – sagen wir um zwei oder drei Jahrzehnte – wohin würdest du zurückwollen?

Vielleicht ins Yosemite-Valley, das wäre der Wahnsinn. Ich glaube, ich würde mir die 50er- oder 60er-Jahre aussuchen. Ich müsste dann aber schon erwachsen sein. Das war eine Zeit, als man mit der verfügbaren Kletterausrüstung schon etwas anfangen konnte – und die bedeutenden Routen waren alle noch nicht erschlossen.

Könntest du dir auch ein völlig anderes Leben vorstellen, eines ohne Klettern?

Dann würde ich wahrscheinlich auf eine einsame Insel ziehen und als Surferin leben. Es gäbe keinen Streit um die Wellen, das Wasser wäre herrlich warm, das wäre wunderbar. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, und ich habe nur deshalb mit dem Surfen aufgehört, weil die Szene in meiner Kindheit nach außen hin nicht besonders freundlich und offen war. Da hieß es immer: Du bist mir im Weg, geh von meiner Welle runter…

Was motiviert dich am meisten, wenn du kletterst?

Das ist objektiv schwer zu beantworten. Am Anfang war Klettern etwas, wo es für mich viel Neues zu entdecken gab. Es war toll, draußen zu sein, mit interessanten Leuten zusammen zu sein. Das alles gehört heute immer noch zu dem Reiz, den das Klettern für mich hat – aber inzwischen bin ich so viel geklettert und habe so oft darüber nachgedacht, dass es fast schon zu meiner zweiten Natur geworden ist. Meine Beziehung zum Sport hat sich verändert, sie ist gereift. Heute ist Klettern für mich wie eine Meditationsübung in Bewegung. Es ist mein Weg, an nichts zu denken, nichts zu reflektieren und einfach nur im Frieden zu sein. Rein physisch betrachtet glaube ich, dass mein Körper es von mir verlangt, dass ich klettere. Ich muss mich einfach auf diese Weise bewegen. Wenn ich nicht klettern würde, wäre ich Tänzerin geworden. Beides ist kreativ – beides steckt voller Bewegung, Anmut und Kraft.

War es das, was dich 1993 antrieb, die Nose am El Capitan frei zu klettern?

An der Nose ging es um etwas anderes. Ich hatte gerade eine erfolgreiche Karriere als Wettkampfkletterin beendet – aber Klettern blieb mein Beruf, und als Frau, die in einer Männerdomäne Neuland eroberte, stand ich unter gewissen Erwartungszwängen. Ich brauchte etwas Eindrucksvolles und Beispielloses, um den Leuten zu zeigen, wofür ich stand – und Yosemite war ein guter Ort, um all meine Fähigkeiten auf eine bedeutende Route zu konzentrieren. Die Nose hatte alles: traditionelles Klettern, hochklassiges Sportklettern, eine Menge mentaler Herausforderungen. Sie ist technisch anspruchsvoll, du musst absolut bewusst und fokussiert bleiben, je höher du kommst. Diese Route frei zu klettern – etwas zu meistern, was noch kein Mann geschafft hatte – das war schon ein deutliches Statement.

Jenseits aller Rekorde und Titel – was war dein wertvollster Gewinn im Klettern?

Menschliches Wachstum vielleicht. Mein Ego zu überwinden, worin für mich das Hauptziel der Evolution besteht. Ich glaube, dass die Wurzel unseres Egos und die Quelle allen Leids das Verlangen ist, wie die Buddhisten sagen. Ich denke, solange man jung ist, hat man ein sehr selbstbezogenes Ich-Gefühl. Wenn man älter wird, vervollständigt sich unsere Selbstwahrnehmung – das Bild wird breiter und reicher, Mitgefühl und andere soziale Aspekte kommen hinzu. Wenn ich mich mit allem verbunden fühle, dann fühle ich mich größer. So ist das auch beim Klettern.

Was empfindest du, wenn du Leute wie Alexander Huber oder Alex Honnold heute die Nose in weit weniger als drei Stunden klettern siehst?

Das ist beeindruckend. Ich persönlich fühle mich zwar zum Speedklettern nicht besonders hingezogen. Aber ich respektiere solche Leistungen. Ich finde es ungeheuer beachtlich, wie schnell und wie effizient sie an der Nose waren.

Inspirieren dich andere Kletterer?

Selbstverständlich. Jeder Mensch hat seinen eigenen Stil und seine eigene Herangehensweise. Auch wer keine Rekorde bricht oder Extremrouten klettert, hat seine ganz eigene und besondere Ästhetik. Du kannst so jemandem zuschauen und den Fluss und die Schönheit seiner Bewegungen wertschätzen.

Wer inspiriert dich zum Beispiel?

Yūji Hirayama. Seine Art zu klettern ist sehr beweglich und flüssig, und er geht vollständig darin auf.

Und dein Sohn? Klettert der auch schon?

Ja. Aber er inspiriert mich auf eine andere Art, die mit Klettern nichts zu tun hat. Er ist Teil meiner Reise durchs Leben und all dessen, was ich noch zu lernen habe. Mein Sohn ist für mich fast wie ein Spiegel, der stets reflektiert, was ich aussende, sodass ich daran arbeiten kann. In meinem Bemühen ihm zu helfen, finde ich viel über mich selbst heraus. Somit helfen wir uns gegenseitig. Manchmal prallen unsere Charaktere aufeinander, aber auch das ist wertvoll und hilfreich, denn es fordert mich heraus, meinen Blickwinkel zu ändern.

Was ist dein nächstes Projekt?

Da bin ich mir noch nicht sicher. Mein Kletterleben besteht aus verschiedenen Phasen. Daheim in Colorado teste ich gerade zusammen mit meiner Freundin Robyn Erbesfield meine Leistungsgrenzen im Schwierigkeits-Klettern. Die Bewegungen sind kompakter und dynamischer geworden, oft hältst du den Griff gar nicht mehr richtig, sondern generierst an ihm nur noch die nötige Kraft für den Sprung zum nächsten Griff. Für mich ist das eine gute Übung, denn ich will ja auch in Zukunft regelmäßig klettern und vielleicht auch mal wieder ein hartes Projekt anpacken. Aber ich möchte für den Sport die anderen Bereiche meines Lebens nicht mehr opfern. Im Moment will ich beim Klettern vor allem meinen Körper und Geist in gutem Zustand halten, mehr Kraft aufbauen – und menschlich vorankommen.

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