Zieht euch warm an!

Auf dem Rabentürmchen
Auf dem Rabentürmchen sind wir zwar die Zweiten - aber das macht nichts, unsere Jahreserste haben wir bereits in der Tasche. Auf dem Selfie von rechts: Ralf, Sven, Claudia, Denis und Hartmut. (Foto: Hartmut Landgraf)

Kurz nach Neujahr überkommt so manchen im Elbsandsteingebirge plötzlich ein merkwürdiges Kletterfieber. Und er fordert sein Glück und den Rest der Zunft für einen zweifelhaften Triumph heraus.

Januar 2015, kurz nach Neujahr – in der Buschmühle beginnt der Tag mit dem üblichen Teller- und Tassengeklapper. Den angebotenen Kaffee lehne ich ab und bestelle stattdessen ein Bier. Bei so einem Wetter muss man sich selbst das Elbsandsteingebirge erst einmal schöntrinken. Wir rüsten uns für die gemeinste aller bergsportlichen Disziplinen: Taupunkt-Klettern.

Das Gasthaus Buschmühle im Kirnitzschtal.
Die Buschmühle im Kirnitzschtal ist ein besonders in Kletterkreisen beliebtes Gasthaus und ein guter Ausgangspunkt für Touren ins Gebiet des Großen Zschand. (Foto: Hartmut Landgraf)

Draußen ist alles trüb und grau. Im Wald stehen Slush-Eis-Pfützen auf halbgeschmolzenen Schneeteppichen. Kein Hund geht bei solchen Bedingungen freiwillig vor die Tür. Denis, Ralf, Claudia, Sven und mich aber hat ein merkwürdiges Kletterfieber gepackt.

Immer kurz nach Silvester macht sich das Kribbeln bemerkbar. Ein paar Tage hält man es aus, aber irgendwann wird es zu groß und die Füße laufen ganz von alleine los. Einen Gipfel besteigen! Eine erste Duftmarke setzen. Erster sein, wo im neuen Jahr noch kein anderer Bergsteiger gewesen ist. Und am Ende erscheint einem ein grauer Tag wie heute dann so gut wie jeder andere. Wir haben uns entschieden – es geht zur E-Flügel-Wand.

Unfug mit ernsten Zügen?

Der Wettlauf um die sogenannte Jahreserste ist ein beliebter Sport in Sachsen und ein Moment im Bergsteigerjahr, an dem allerlei wunderliche Dinge passieren: Männer, die im Sommer stolz mit blanker Brust und ohne Helm durch die freien Wände turnen, stecken ihren Kopf plötzlich in alberne Schlappohrkappen und entwickeln angesichts widriger Bedingungen eine auffällige Vorliebe für muffige Kamine und den Einsatz des Hinterns beim Klettern. Harte Kerle, die das ganze Jahr über jeder Bequemlichkeit entsagen, kann man voller Staunen dabei beobachten, wie sie auf dem Gipfel ein Sitzkissen aufpusten. Manch einer klettert gar mit Streusand in den Taschen. Oder zieht völlig selbstverständlich einen Handfeger aus dem Rucksack und beginnt damit penibel die Griffe und Tritte abzukehren.

Glühweinpause
Medizin gegen zu niedrige Körpertemperatur. (Foto: Hartmut Landgraf)

Wer aber solche Verhaltensauffälligkeiten schon der närrischen Faschingszeit zuordnet, die der Jahresersten folgt, der irrt. Denn der Brauch hat – wie alle Rituale – seinen Ernst. So richtig populär soll er erst nach 1945 geworden sein, und das hing mit den Gipfelbucheinträgen zusammen. Seit langem gab es zwei Formen des Gipfelgrußes: Das aus der Turnerbewegung herrührende Berg Heil und das einstmals in Naturfreundekreisen übliche Berg Frei. Nach dem Krieg und in den Anfangsjahren der damaligen DDR wurde Berg Heil von den politisch Verantwortlichen als ein unzeitgemäßer oder gar reaktionärer Ausdruck angesehen, der ausgelöscht werden sollte. Umso wichtiger wurde es vielen Bergsteigern, ihn zum Jahresanfang in die Gipfelbücher zu schreiben und damit symbolisch gegen die erneute politische Vereinnahmung des Sports zu protestieren. Und so begann jedes Jahr aufs Neue in den sächsischen Bergen ein dramatischer Wettstreit, schreibt Dietrich Hasse 1969 in der Zeitschrift Alpinismus: „Die BERGHEIL lesen wollten, teilten kurzerhand alle wesentlichen Türme unter sich auf und standen in der Neujahrsnacht gegen 0 Uhr im Gipfelschnee von Falkenstein, Hohem Torstein, von Bloßstock, Rauschenstein, Fluchtwand, Goldstein, Hunskirche, Barbarine, Talwächter und wo immer es war (…) Höchst selten, daß BERG FREI in die vorrangigen Gipfelbücher Einzug hielt. Sprüche wie ›Und die Berge bleiben uns doch!‹ blieben keine Seltenheit.“ Der Dresdner Bergsporthistoriker Joachim Schindler nennt Gipfelbücher nicht umsonst „ein Spiegelbild der Zeit“. Andere Sprüche waren weniger politisch, dafür aber umso geistreicher. So konnte man etwa zum Jahresanfang 1951 im Gipfelbuch auf dem Höllenhund folgenden Satz lesen: „Trinke aus dem Brunnen Bergesherrlichkeit, steige lichtumsponnen – in die Einsamkeit.“ Bis heute werden im Elbsandstein zu Neujahr immer auch Philosophen geboren.

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 Bloß gut, dass ich nicht vorsteige

Wir hingegen treten unter der E-Flügel-Wand gedankenleer von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte kneift uns gehörig in die Zehen. Unsere Jahreserste. Hätten wir sie nur schon in der Tasche und könnten den Glühwein danach genießen! Mit meiner Position in der Seilschaft bin ich ganz zufrieden. Ralf steigt vor, er hat die meiste Erfahrung – und der Eintrag ins Gipfelbuch ist ebenfalls sein Part. Ich verdiene mein Geld zwar mit Schreiben, aber prosaische Neujahrssprüche sind nicht mein Ding. Statt eines geistreichen Zitats fällt mir, wie Denis sich ausdrückt, allenfalls „bunte Knete“ ein. Und davon gibt es weiß Gott schon genug in den Gipfelbüchern der Sächsischen Schweiz zu lesen.

Aus dem Kletterführer sind wir nicht richtig schlau geworden. Ralf folgt seinem Instinkt und Erinnerungsvermögen – der Leipziger kennt den Felsen, er ist ihn schon einmal geklettert. Zur Südwestkante will er uns führen, die ist leicht und hoffentlich weitgehend frei von Eis und Schnee. Die ersten Meter sehen allerdings wenig einladend aus. Zum Einstieg geht es zunächst eine vor Dreck starrende Schlotte hinauf, Schneematsch gleitet mir unter den Füßen weg – dummerweise habe ich schon die glatten Kletterschuhe angezogen. Sven ist schlauer, er behält seine profilbesohlten Wanderstiefel sogar bis zum Gipfel an. Ralf macht es ganz anders: Zum Klettern trägt er die passenden Schuhe, für oben aber hat er seine lammfellgefütterten Botten zwischen Karabinern und Schlingen am Gurt baumeln. Schwere Gipfelpuschen! Wir haben uns aufgeteilt. Denis und Claudia bleiben unten. Claudia kennt das Klettern bisher nur aus der Halle – der winterliche Naturfels flößt ihr Respekt ein.

Lorenzsteine
Die Lorenzsteine – eine markante Felsformation am Eingang zum Großen Zschand. (Foto: Hartmut Landgraf)

Man darf sich nichts vormachen: Winterklettern im Sandstein ist im Grunde genommen kein Genuss, sondern ein Eiertanz auf rutschigem Parkett. Ralfs Kante ist nicht so schön griffig wie erhofft. Zum Glück ist sie geneigt und so leicht, dass man trotzdem gut hochkommt. Im Sommer steht man auf so einer Wand so sicher wie auf Sandpapier, der Schuh haftet allein durch seine per Körpergewicht verstärkte Eigenreibung. Im Winter hingegen ist die Reibung vermindert, und das kleinste bisschen Reif kann die Tour vereiteln.

Eine wunderschöne Zitterpartie

Vorsichtig schiebe ich mich durch eine tiefe Kluft zur Kante hin. Die Schuhe stehen besser als gedacht. Wenn ich nur wüsste, ob ich noch Füße habe. Beim Winterklettern tickt eine biologische Uhr mit. Je kälter es ist, desto schneller werden Finger und Zehen steif und gefühllos. Handschuhe sind im feinstrukturierten Sandstein keine guten Gehilfen. Aber ohne sie packt man einen Griff an und spürt alsbald nicht mehr, ob man ihn wirklich noch in der Hand hat. Ein äußerst mulmiges Erlebnis.

Eintrag ins Gipfelbuch
„Berg Heil 2015“ – Der Gruß im Gipfelbuch muss sein bei einer Jahresersten. (Foto: Hartmut Landgraf)

Passieren kann mir nichts, höchstens dass ich ein paar Zentimeter ins Seil rutsche. Aber das unsichere Gefühl lässt sich trotzdem nicht ganz vertreiben. Länger als nötig taste ich am Gipfelausstieg nach Halt und Balance. Ein von Wind und Wetter rundgeschliffenes Band sieht wenig vertrauenerweckend aus. Unter meinen Füßen taucht die Felswand in den weißen Winterwald hinab. Ich sehe mich schon wie eine Trickfilmfigur mit ausgestreckten Armen und Beinen haltlos in der Luft rudern. Was hilft´s – Augen zu und durch! Mit einer Bewegung, die irgendwo zwischen Robben und Klimmziehen einzuordnen ist, gelingt der letzte unbehagliche Meter. Ralf hat den Gipfel ohne Denkpause und Probleme erreicht, aber richtig begeistert ist er auch nicht. „Etwas rollig“ sei der Fels gewesen. Und die ganze Tour im Grunde genommen ein ziemlicher Blödsinn.

Ralf und Sven auf dem Gipfel
Geschafft – Ralf (links) und Sven auf dem Gipfel der E-Flügel-Wand. Sie sind die ersten im neuen Jahr. (Foto: Hartmut Landgraf)

Doch wir werden reich belohnt. Vor unseren Augen öffnet sich das Amphitheater der hinteren Sächsischen Schweiz in seiner winterlichen Pracht. Grau und kalt – aber grandios und erhaben. Die runden Höcker der Lorenzsteine, das trotzige Hintere Raubschloss, die fernen Ränge der Affensteine, der weiße Rücken des Winterbergs. Wir reichen uns die Hand. Berg Heil 2015! So schreibt es Ralf auch ins Gipfelbuch. Zwei Tassen Glühwein und anderthalb Stunden später werden wir uns auf dem Rabentürmchen bei den Lorenzsteinen noch einmal die Hände schütteln. Dann hat auch Claudia ihren ersten Gipfel geschafft. Eine zweite Jahreserste ist er allerdings nicht. Der Buschmüller ist uns zuvorgekommen.

Ein bisschen kalt ist er - Claudias erster Gipfel. Eintrag ins Buch auf dem Rabentürmchen. (Foto: Hartmut Landgraf)
Ein bisschen kalt ist er – Claudias erster Gipfel. Eintrag ins Buch auf dem Rabentürmchen. (Foto: Hartmut Landgraf)

Über die „Gipfelbücher & Bergsprüche“ der Sächsischen Schweiz ist 2003 das gleichnamige Buch von Gert Uhlig und Joachim Schindler erschienen. Zum Preis von 7 Euro kann man es über die auf der Webseite www.lilienstein.info genannte Kontaktadresse bestellen.

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