Sei federleicht!

Schon Rudolf Fehrmann weist darauf hin, dass sich die Könner unter den Kletterern fließend in der Wand bewegen. Fast wie Tänzer. Dafür gibt es ein gutes Training.

Von Bernd Arnold

Boulder (USA) im August 1991. Zwei Monate Reisen und Klettern liegen hinter Heike und mir. Zufrieden und voller neuer Eindrücke warten wir vor dem Kletterladen auf Jesse, der uns zum Flughafen nach Denver bringen will. In der Glastür des noch geschlossenen Geschäfts wirbt ein etwas schrilles Plakat für eine Kletterballett-Aufführung. Für uns eine bis dato unbekannte Form, sich kletternd zu bewegen. Die Neugier ist geweckt, doch das nützt uns nichts – Rückflug in drei Stunden.

Wieder daheim in Hohnstein. Die Idee beschäftigt mich. Ließe sich etwas Ähnliches auch in Sachsen inszenieren? Bei meinen Recherchen stoße ich auf den Franzosen Antoine Le Menestrel. Schon bald ergibt sich ein Kontakt – Er ist nicht abweisend, doch wir kommen nicht zusammen. Unsere Terminpläne passen nicht zueinander, außerdem sind seine Honorarforderungen weit von meinen Vorstellungen entfernt. Immerhin tröstet er mich mit der Telefonnummer von Erika Engler, einer kletternden Tanzlehrerin und Choreographin aus der Schweiz. Glück gehabt. Schon beim ersten Anruf ergeben sich zufällige, aber großartige Gemeinsamkeiten. Trotzdem soll es fast noch ein Jahr dauern, bis ich sie in Hohnstein begrüßen kann.

Tanz in der Vertikalen, fünf Kletterer an der Kunstwand, dahinter ein Baugerüst
„Danse Verticale“: Die Wand als Bühne – und Ausdrucksmöglichkeit. (Foto: Bergsport Arnold)

Die Wand als künstlerischer Raum

Für unsere damalige Trainingsgruppe (Hohnsteiner Kreis) beginnt etwas Neues – „Danse Verticale“. Die Idee, zu der uns Erika Engler mit Einfühlungsvermögen und pädagogischem Geschick inspiriert, nimmt bald Gestalt an und wird im Laufe der Zeit auch mehr Bewegungsfantasie bei uns wecken, die sich später auf unser Klettern am heimischen Sandstein auswirkt.

Vier Kletterer an einer Kunstwand - teils kopfüber
Tanz in der Vertikalen: Im Sommer 2009 inszenieren Kletterer im Hohnsteiner Burggarten eine ungewöhnliche Performance. (Foto: Bergsport Arnold)

Was steckt dahinter? Eigentlich ist die Idee, sich federleicht an der Wand zu bewegen, nichts wirklich Neues:  „Der gute Wandkletterer zeigt eine große Natürlichkeit und Eleganz der Bewegung. Er klettert nicht ruckartig, sondern gleitet gleichförmig an der Wand empor… Wer ihm zusieht, auf den überträgt sich das Gefühl der Sicherheit.“  Das schrieb Rudolf Fehrmann 1908 im ersten Kletterführer der Sächsischen Schweiz.  Man wäre keineswegs erstaunt, hätte Fehrmann seinen Ausführungen damals noch einen weiteren Satz angefügt: „Klettern ist wie Tanzen in der Senkrechten“. So sollten noch über 80 Jahre vergehen, bis französische Kletternde, Tänzer/innen, Choreograph/innen und Filmschaffende an Häusern, Kulissen, im Meer und an Felsen mit Fehrmanns Eindrücken zu spielen begannen. Namen dieser Zeit waren Bruno Dizien, Laura de Nercy, Patrick Berhault, Antoine Le Menestrel und Fabrice Guillot – Sie waren die „Hebammen“ des Danse Verticale.

Wer das verinnerlicht, findet auch am Fels neue Lösungen

Was ist das Faszinierende daran? Erika Engler sieht es so: Für Turnende und Tanzende ist es ein neues Turngerät und eine Bereicherung um eine neue Dimension. Den Ideen sind keine Schranken gesetzt, das einzige Limit ist die Schwerkraft. Vom Seil und vom Ziel oben anzukommen befreit, kann die eigene Bewegungsphantasie ausgelebt werden. Die senkrechte Wand wird auf spielerische Weise belebt und regt immer wieder zu neuen Experimenten an. Diese können von einfachen Bewegungsformen mit Musik, über farbig bewegte Bilder, Visionen und Geschichten, bis zum anspruchsvollen Tanz in der Vertikalen reichen. Eingespielte Kletterzüge können mit ungewöhnlichen Varianten bereichert werden. Auch synchrone Bewegungen als Teil einer Gruppe sind für Kletternde, die meist als Einzelkämpfer/innen unterwegs sind, eine neue Erfahrung.

Drei Kletterer in aufeinander abgestimmten Bewegungsformen an der Wand
Alles im Fluss – Licht, Musik, Bewegungsabläufe… (Foto: Bergsport Arnold)

Ich selbst erlebe es so: Unabhängig von Vergangenheit und Gegenwart verbirgt sich hinter „Danse Verticale“ der Wunsch, federleicht Hindernisse zu überwinden. Das Gefühl der Leichtigkeit, als ob die Schwerkraft nicht existiere, lässt den Stress um Schwierigkeitsgrade vergessen. Und nicht selten findet sich dabei eine elegantere Lösung für die Schlüsselstelle am Felsen. Klar, nicht jeder wird, bei so viel traditionellem Ballast, Zugang zu dieser Erfahrung finden. Für mich jedenfalls, nach fast 30-jährigem Praktizieren, ist sie eine nicht mehr wegzudenkende Bereicherung. Wenn man einmal verinnerlicht hat, wie „Danse Verticale“ das eigene Bewegungsvolumen erweitert, ergeben sich auch draußen am Naturfels, im Naturraum überhaupt, neue und spannende Erlebnisformen. Geschenkt bekommt man diese „neue Qualität“ natürlich nicht. Es ist wie mit allem im Leben: Du musst es verstehen – und es bedarf harter Arbeit! Die Belohnung bleibt offen…

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