Ist das Kunst?

Klettern ist mehr als nur die sportliche Auseinandersetzung mit einer Wand. Es zeigt, wie wir uns selbst in Bezug auf ein Gegenüber erleben – den Fels und die Natur. Kletterwege öffnen uns und anderen neue Räume. Und das reizt zu einem gewagten Vergleich.

Von Bernd Arnold

Die Altvorderen des Klettersports bezeichneten unseren Naturtrieb, das Bewegen am Felsen, getragen von Freude an der Problemlösung, oftmals als Kletterkunst. Womit die kreative Umsetzung von Bewegungsideen in körperliche Bewegung gemeint ist. Jede Wand birgt dabei ihre Bewegungsaufgabe, die zwar in vielem variabel, aber in ihrer Schlüsselstelle und vor allem in der großen spezifischen Linie immer absolut ist. Klettern wird für uns somit zur emotionalen Begegnung mit der Natur!

Durch unsere Wege teilen wir uns jenen mit, die sie begehen

August 1991. Mit Heike, meiner damals vierzehnjährigen Tochter, „begegnete“ ich auf der Brühlschen Terrasse am Dresdner Elbufer Caspar David Friedrich (1774-1840). Oder richtiger: natürlich begegneten wir nicht ihm, sondern nur dem Zitat des Künstlers, welches symbolisch die an ihn erinnernde Skulptur ergänzt.

„Der Maler soll nicht nur malen,
was er vor sich sieht,
sondern auch was er in sich sieht.
Sieht er also nichts in sich,
so unterlasse er auch zu malen,
was er vor sich sieht.“ (C.D.F.)

In meiner Auslegung: Durch individuelles Empfinden erschließt sich für den Kletterer der Weg. „Nach innen geht der Weg“ (Novalis, Blütenstaubfragment). Der Leitspruch romantischen Denkens. Die Nähe zur Natur – ein Mittel der Selbstfindung.

(Foto: Hartmut Landgraf)

Auf die Felsoberfläche Kletterwege zu legen, ihnen zu folgen, sind zuerst Angebote der Natur, die uns inspirierende Erlebnisse vermitteln. Von uns begangen, werden sie zur Mitteilung und im weiteren Sinne ein Angebot zum „Erleben des Augenblicks“. Wenngleich dieser, zwar real vorhanden, von jedem anders empfunden wird.

Die Felsen gehören dabei niemandem. Lediglich beim Kreieren einer Linie, in der Entstehungsphase, ist zumindest die Idee eine Art „Privatbesitz“. Mit ihrer Vollendung wird sie Allgemeingut. Somit kann Klettern durchaus auch Kultur des Gebens sein. Bis zu dieser Idealvorstellung ist es oft ein langer Prozess, eine innere Auseinandersetzung, um unsere psychischen und physischen Möglichkeiten auf das dabei erforderliche Niveau zu heben.

Wo ist nun das Kunstwerk im Kletterweg zu finden? Am plausibelsten, wenn überhaupt, lässt er sich unter dem Kunstbegriff „Land-art“ einordnen, der sich aus dem Umgang mit Naturmaterialen in Erfahrung deren Wandels erklärt. „Berge sind uns nur ein Bild für die Vergänglichkeit alles Irdischen, nicht aber für die Ewigkeit der Natur.“ (Paul Preuss)

(Foto: Bernd Arnold)

Ein Morgen überm Raaber Kessel

Juni 2020. Eigentlich wollte ich den Sonnenaufgang vom Felsenriff der Großen Gans aus fotografisch einfangen. Mein Wecker, sonst ungenutzt, hatte versagt. Zu spät war ich am Ort des Geschehens, die Sonne hatte bereits um ihren Durchmesser die Horizontlinie überschritten. Etwas enttäuscht sitze ich überm Raaber Kessel. Die Landschaft ist in gelbliches Licht getaucht. Es ist noch still, weder Rasenmäher noch Motorsäge stören diesen morgendlichen Frieden. Die Schattenbildung der noch flachen Sonnenstrahlen lässt das Felsprofil, die Türme mit Kanten und Rissen, besonders plastisch erscheinen.

Mit den Augen und in Gedanken fokussiere ich Wege, zu denen es über Jahre zu handfesten, ganz persönlichen Beziehungen und bei manchen auch zur Mitteilung kam. Allein am Vorderen Gansfelsen bin ich dankbar für die Existenz von Hartmannweg (1886), Gühnekamin (1895), Nordweg (1907), Rohnspitzlerweg (1912) und Südwand (1909). Immerhin konnte ich bei vielen Wiederholungen die Mitteilungen vorangegangener Generationen erahnen. Und dann noch der Nordpfeiler (1969), soeben die scharfe Schneide zwischen Licht und Schatten, als Neutour selbst gestaltet.

Welch ein Glück, dass ich verschlafen hatte…

Leben nach meiner Phantasie

Ich brauche ein wenig wilde Freiheit,
ein wenig Taumel im Herzen
und diesen fremden Geschmack
von unbekannten Blumen.
Für wen wären diese Berge
und dieser Wind von Schnee und Quellen?

Die Schafe verstehen nichts!
Sie rupfen, sie rupfen
alle und allzeit im selben Sinn
und käuen dann endlos wieder
ihre geschmacklose Gewohnheit…

Ich, ich will springen,
über Abgründe hinweg,
und, das Maul voller Kräuter ohne Namen,
erschauern vor abenteuerlicher Freude
auf dem Gipfel einer Welt.

(„Gebet der Wildgeiß“ von Carmen Bernos de Gasztold)

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