Ein Fluss in Mecklenburg-Vorpommern gibt sein blutiges Erbe preis: Spuren eines Gemetzels vor über 3000 Jahren. Die Funde nähren Zweifel am gängigen Bild vom Alltag und Zusammenleben unserer frühen Vorfahren. Eine Paddeltour in den Sumpf der Geschichte.
Die kahle Anhöhe südlich von Weltzin brütet in der Mittagssonne. Unten blinzelt hier und da die Tollense durchs Ufergebüsch. Heimlich, still und leise, als ob sie nicht groß auffallen will, schlängelt sie sich im Schilf dahin. Dabei wurde sie längst entdeckt – und wie! Kaum ein Archäologe, der von dem unscheinbaren Fluss in Mecklenburg-Vorpommern noch nie gehört hätte. Kaum eine Zeitung, die noch nicht über ihn berichtet hat. Die Tollense ist ein Star.
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Ein sehr kleiner zwar, in der Tat. Nur 68 Kilometer lang, stellenweise nicht viel breiter als ein Bach, hier bei Weltzin vielleicht zehn Meter. Genau diese Engstelle sorgt für Gesprächsstoff. Würde man eine Brücke über den Fluss bauen wollen, hier wäre ein guter Platz dafür. Das war schon in uralten Zeiten bekannt – vor fast 3300 Jahren. Archäologen haben bei Weltzin Reste eines künstlichen Damms gefunden, der durchs Sumpfland und über den Fluss führte. Womöglich war das Bauwerk damals Teil eines seit Langem und viel genutzten Weges. Vielleicht sogar ein strategisch wichtiger Punkt einer alten Handelsroute, auf der in der Bronzezeit wertvolle Waren aus dem Süden Europas in den Norden gelangten. Was immer seine Bedeutung gewesen sein mag, es wäre womöglich eine plausible Erklärung für das gewesen, weswegen die Tollense heute Geschichte schreibt: Denn hier, wo der Damm war, ereignete sich vor mehr als drei Jahrtausenden ein brutales Gemetzel.
Sommer 1996: Auf einer Paddeltour entdeckt der Hobbyarchäologe Ronald Borgwardt aus Burow im Ufersaum der Tollense ein paar alte Knochen. Zunächst hält er sie für Weltkriegsrelikte. Bei genauerem Hinsehen aber erregt einer der Funde seine Aufmerksamkeit: ein menschlicher Oberarmknochen, in dessen Gelenkende eine Pfeilspitze aus Flintstein steckt. Was Borgwardt nicht ahnt: Der Zufallsfund wird Schlagzeilen machen und eine der größten archäologischen Sensationen des Jahrhunderts zutage fördern. Kurze Zeit später beginnen Experten der mecklenburgischen Bodendenkmalsbehörde mit ersten Erkundungen des Geländes. Schon bald tauchen weitere Artefakte auf: eine zerbrochene Holzkeule in Form eines Baseballschlägers – und eine zweite, die eher an einen Polostick erinnert. Schnell wird klar: Ihre Eigentümer haben sie nicht zum Spielen benutzt. Was sich vor drei Jahrtausenden an der Tollense zutrug, war ein blutiger Überfall oder eine regelrechte Schlacht zwischen verfeindeten Heeren. Immer mehr Knochenfragmente werden gefunden. Zertrümmerte und gebrochene Gliedmaßen. Eingeschlagene Schädel. Spuren roher Gewalt. Gebeine von Menschen, vereinzelt auch von Pferden. Und Waffen: Lanzenteile und Messer, Keulen, Pfeilspitzen, Schwerter. Ab 2008 lassen systematische Grabungen allmählich das Ausmaß des urgeschichtlichen Dramas erkennen. Über eine Fläche von drei Kilometern entlang der Tollense liegen die Funde verstreut. Hier wurde in großem Stil massakriert, gemordet und abgeschlachtet. Hunderte Menschen fanden den Tod.
Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen. Das fällt auch schwer in einer solchen Umgebung. Die Landschaft könnte kaum friedlicher sein. Sanfte Hügel in der Sonne. Felder, auf denen Getreide reift. Die Luft erfüllt vom Lied der Lerchen und Drosselrohrsänger. Landidylle pur. Doch es gibt einen Weg, dem düsteren Teil ihrer Geschichte nachzuspüren – er führt übers Wasser. Von Neubrandenburg schafft man die Tollense mit einem Kanu in drei Tagen. Morgens in aller Stille, wenn noch Nebel überm Fluss liegt und die Sonne dahinter wie eine Erscheinung aus rötlich dampfenden Sumpfwiesen steigt, hat der Frieden etwas Zerbrechliches und Bedrückendes.
Als ob die Landschaft spürt, was sie in sich trägt. Einen Meter tief in der Uferböschung wird zum ersten Mal greifbar, was sich wie eine blutige Spur über Jahrtausende durch Europas Geschichte zieht – und sie bis heute prägt: „Wir sehen im Tollensetal zum ersten Mal einen Krieg in seinen Überresten vor uns“, sagte Mecklenburg-Vorpommerns Landesarchäologe Detlef Jantzen vor einigen Jahren im Gespräch mit dem SPIEGEL. Ägypten, Ramses II., die berühmte Schlacht bei Kadesch gegen die Hethiter, 1274 v.Chr. – davon wissen wir nur aus den Schriften. Im Morast des Tollensetals hingegen blieben die Spuren des Gemetzels für Jahrtausende konserviert und kamen erst durch die Erosion der Uferböschungen ans Licht.
DER PODCAST ZUM THEMA
„Es ist der erste Gewaltkonflikt dieser Größenordnung, den wir archäologisch fassen können.“
Dr. Detlef Jantzen im Podcast
Der Archäologe über die Ausgrabungen an der Tollense – und die Debatte, was 3000 Jahre alte Knochen über Machtstrukturen, Handelsbeziehungen und Konflikte im frühen Mitteleuropa erzählen. Gespräch: Hartmut Landgraf
Jantzen leitet das Forschungsprojekt zur Tollense, dessen Funde längst international für Gesprächsstoff und Spekulationen sorgen und genügend Material für opulente Ausstellungen bieten. Doch die Deutung der Spuren sei extrem schwierig, sagt der Archäologe im Podcast mit diesem Blog. Von einem Krieg mag er heute nicht mehr sprechen. Dass an der Tollense zwei professionelle Streitmächte aufeinandertrafen, ist nach neuesten Erkenntnissen zumindest zweifelhaft. Die Indizien hätten sich zuletzt in anderer Richtung verdichtet. Womöglich sei ein Teil der Getöteten sogar gänzlich unbewaffnet gewesen. Opfer eines Überfalls? Ein großangelegter Angriff auf eine friedliche Handelskarawane? Fest steht nur: Es wurden Knochen von mindestens 150 Toten gefunden – überwiegend Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren. Einige kamen von weit her: aus Böhmen oder dem Alpenraum. Und sie waren weite Fußmärsche gewöhnt. Das haben Knochenuntersuchungen ergeben.
Doch die Zahl der Toten könnte auch größer gewesen sein – vielleicht sogar viel größer. Bislang wurde nur ein kleiner Teil des mutmaßlichen Schlachtfelds wissenschaftlich untersucht. Hochrechnungen und die Verteilung der Knochenfunde auf der Fläche ließen in den letzten Jahren sogar ein Getümmel mit bis zu 4000 Kämpfern und 1000 Toten möglich erscheinen. Nach damaligen Maßstäben eine Auseinandersetzung riesigen Ausmaßes. Zumindest in Europa ist aus dieser Zeit nirgendwo etwas Vergleichbares bekannt. „Nördlich von Altentreptow wurde der Krieg erfunden“, schrieb die Frankfurter Allgemeine vor einigen Jahren. Und der Göttinger Prähistoriker Thomas Terberger sprach erst im vorigen Jahr gegenüber dem STERN von einem „Konflikt von europäischer Dimension“.
Von der Hügelkuppe bei Weltzin blickt man weit ins Land. Und sieht – nichts. Zumindest nichts von Bedeutung. Felder. Wiesen. Eichenwald. Ein paar Windräder. Das aber soll sich ändern. Ein Erlebniszentrum ist im Gespräch: ein repräsentabler, futuristischer Museumskomplex. Halb unterirdisch, mit Forschungs- und Ausstellungsräumen auf der Höhe des Grabungshorizonts, direkt auf dem Schlachtfeld. Der Kommune gefällt die Idee. Auch im Schweriner Landtag gibt es Initiativen, um den Ort und seine Geschichte touristisch zu beleben. Das Projekt würde Millionen kosten, aber – so hoffen seine Unterstützer – es wäre ein Wachstumsschub für die strukturschwache Region.
Vorerst bleibt es hier noch still. Auch der Krieg scheint weit weg. Heute tobt er in der Ukraine. Im Sudan. In den Netzwerken. Doch vor nicht mal 80 Jahren war er noch ganz in der Nähe. Hier, wo im Streit um einen Flussübergang vor undenklich langer Zeit vielleicht alles anfing. Natürlich ist es irreführend, sich Krieg so vorzustellen – wie ein invasives Gewächs, das sich von einem bestimmten Herkunftsort ausgehend über die Welt verbreitet hat. Doch der Gedanke verlockt. Dann könnte man die Geister der Tollense dahin zurücktreiben, von wo sie einst über uns kamen: in den Sumpf der Geschichte. Mögen sie dort in Frieden ruhen.
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Gab es frühe Hochkulturen in Mitteleuropa? Spektakuläre Ausgrabungsfunde lassen die regionale Urgeschichte in neuem Licht erscheinen. Mit den Relikten des Gemetzels an der Tollense stellt sich die Frage nach den Macht- und Herrschaftsstrukturen vor über 3000 Jahren. Auch 300 Kilometer weiter südlich, in Sachsen-Anhalt, haben Archäologen einen sensationellen Bronzezeit-Fund gemacht >>> die Himmelsscheibe von Nebra.
Bootsvermieter an der Tollense
Das Gebiet um die Tollense, Peene und Trebel gehört zu den schönsten Paddelrevieren Norddeutschlands. Kanus für eine mehrtägige Paddeltour vermietet u.a. die Kanustation Klempenow am Wasserwanderrastplatz Burg Klempenow, unweit der Ausgrabungsstätte an der Tollense.
- Zur Webseite des Anbieters >>> Kanustation Klempenow
Ich finde das wirklich gut geschrieben. Meinen Dank dafür.
Es macht Lust, einmal die Tollense und den Ort des Geschehens zu besuchen.
Dass es sich bei der „Tollense-Schlacht“ um den Ursprung allen kriegerischen Treibens handelt, kann man zwar ausschließen. Aber faszinierend ist es doch, dass es hier in Nordeuropa offenbar frühe, wehrhafte Hochkulturen gegeben hat, die fast vollständig im Dunkel der Zeit verschwunden sind.