So klingt der Frühling

Serie: Abenteuer Natur

Wasseramsel
Zeitig nisten, zügig brüten, pfeilschnell jagen - die Wasseramsel hat es bei allem etwas eiliger als andere Vögel. Ihr Gesang sagt dem Winter schon im Februar Lebewohl. (Foto: marcohoffmann/fotolia.com)

Im Polenztal erwacht das Leben. Die Wasseramsel baut ihr Nest. Mit ihrem Gesang beginnt ein neuer Zyklus in der Sächsischen Schweiz. Und das Abenteuer Natur bei Sandsteinblogger.de

Wer aufmerksam ist, hat es mitbekommen: Die Sächsische Schweiz hat einen neuen Ton. Er ist zart, aber sehr lebendig – ein junger, silberheller Klang im sonst noch stillen Wald. Am Ufer der Polenz hört man ihn schon ganz deutlich: Glucksend und schäumend vor Freude eilt der Bach durch die Klamm, zerrt übermütig an welken Brombeerranken, spült die letzten kläglichen Eisreste von Blöcken und Felsen, wäscht altes Laub vom Ufer fort. Die Luft duftet danach, das Wasser duftet danach – Frühling!

Die Wasseramsel hat die Veränderung längst bemerkt. Auf einem Felsblock in Ufernähe sitzt sie und hält ihr Köpfchen schräg, als würde sie lauschen, was die Welt Neues zum Vorschein bringt. Um sie herum wuselt und wirbelt die Polenz wie ein ausgeschlafenes Kind, das spielen will – der kleine Vogel aber hockt verträumt wie ein Buddha auf seinem Stein und ist in seiner stillen Einkehr ein Bild für die Götter.

Polenzklamm
In der Polenzklamm rücken die Felsen so dicht an den Bach heran, dass sein Rauschen viel lauter klingt, als es in Wirklichkeit ist. (Foto: Hartmut Landgraf)

Plötzlich aber beginnt die Amsel zu singen. Einen kurzen, winzigen Ton lang nur – aber mit einer Kraft, dass ihr Lied den vorlauten Bach für einen Augenblick zum Schweigen bringt. Dann bricht der Gesang genauso plötzlich wieder ab. Doch instinktiv weiß man, was die Melodie bedeutet: dass der Winter sein Spiel verloren hat!

Es ist ein alljährliches Ritual und doch immer wieder faszinierend: Wenn die Wasseramsel zu singen beginnt, schlägt die Natur in der Sächsischen Schweiz die Augen auf. Und damit kommt etwas wieder in Ordnung, das lange aus dem Gleichgewicht geraten war: Denn das Gezwitscher des kleinen Frühlingsboten war in Sachsen früher ein eher seltenes Ereignis. Jahrzehntelange Umweltsünden – verdreckte Flüsse, verbaute und begradigte Ufer – hatten die Wasseramsel in ihrem Lebensraum arg eingeengt und immer mehr in Bedrängnis gebracht. Ganz allmählich aber scheint sich ihr Bestand wieder zu erholen. In der Sächsischen Schweiz gibt es heute wieder mindestens 45 Amselpaare, schätzt Ulrich Augst von der Nationalparkverwaltung. Man kann die balzenden Frühstarter an der Kirnitzsch und Gottleuba singen hören – und auch wieder an der Biela und Sebnitz. Die Biela war vor 1990 nur noch ein trüber Pfuhl von Industrieabwässern. Nicht anders die Sebnitz. „Mal kam grünes, mal blaues, mal weißes Wasser“, erinnert sich Ulrich Augst. Solche Verunreinigungen haben die Wasseramsel vertrieben. Sie braucht klare Bäche, in denen man bis auf den Grund sehen kann – denn das sind ihre idealen Jagdgründe.

Polenztal
Grau vom Winter zieht die Polenz unter kahlen Bäumen dahin. Das Tal ist ein Inbegriff für den Frühling im Elbsandsteingebirge, doch bis hier die ersten Märzenbecher ihre Köpfe hervorstrecken, dauert es noch ein bisschen. (Foto: Hartmut Landgraf)

An der Polenz war die Welt für den kleinen Sänger immer in Ordnung, Teile des Tals standen schon vor dem Zweiten Weltkrieg unter Naturschutz. Vier bis fünf Amselpaare finden hier jedes Jahr einen Platz zum Brüten. Ein herrlich unversehrtes Fleckchen Erde! Mit seinen berühmten Märzenbecherwiesen wurde das Tal zum Inbegriff des Elbsandstein-Frühlings – doch gebührt dieser Ruhm eigentlich der Wasseramsel, die schon lange vor den Märzenbechern auf den Beinen ist, altes Laub, Moos, kleine Zweige und Gras zusammenpickt und sich in den Uferfelsen ihr Nest baut. Oft einfach am selben Platz. „Ich kenne Löcher, da hab ich die Amseln schon vor 40 Jahren gesehen“, sagt Vogel-Experte Ulrich Augst.

Wo kein Fuchs hinkommt

Wir sind vom Gasthaus Polenztal ein Stück bachabwärts gewandert und haben dabei, wie der Naturschützer erklärt, in kürzester Zeit mehrere Amselreiche durchquert. Noch zieht der Hauch des Winters durch die Klamm – Dunstschlieren weben um die Felsen, die Feuchtigkeit lässt sich mit Händen greifen, die Luft riecht würzig nach verfaulten Blättern, die Erde ist kalt und hart. Die Vögel lassen sich davon nicht stören. Emsig sausen sie zwischen den Uferböschungen hin und her, halten hie und da Ausschau von einem Ast oder Stein, um dann blitzschnell in den Bach abzutauchen. Vielleicht ist das hektische Treiben bloß ein Ablenkungsmanöver, damit wir nicht mitbekommen, wo Familie Wasseramsel ihr Nest hat. Falls es überhaupt schon so weit ist! Vielleicht muss das Männchen noch ein paar Tage werben, bis sich seine Gemahlin für einen netten Platz entschieden hat. Irgendwo in den moosbärtigen Felsen am Ufer, „da, wo der Fuchs nicht hinkommt“, wie Ulrich Augst sagt.

Wasseramsel am Bachufer
Fühlt sie sich beobachtet? Aus sicherer Entfernung vom anderen Ufer der Polenz äugt diese Wasseramsel misstrauisch über den Bach. (Foto: Hartmut Landgraf)
Amselnest am Uferfelsen
Wohnung mit Bachblick. Hier hat die Wasseramsel im letzten Jahr genistet, in einem Felsloch zwischen Moos und Farn gut versteckt. Vielleicht zieht sie bald wieder ein? (Foto: Hartmut Landgraf)

Den Hausbau bringen die flinken Bachbewohner in nur zwei Wochen hinter sich und beginnen zehn Tage später zu brüten – drei bis fünf Eier in der Regel. Gut einen halben Monat lang sitzt das Weibchen auf dem Gelege, fleißig mitversorgt vom Männchen, das in den Morgen- und Nachmittagsstunden pfeilgeschwind mit bis zu 50 km/h über die Polenz schwirrt und nach Beute jagt: alle Arten von Bachinsekten, Köcherfliegenlarven, Würmer, Schnecken oder sogar kleine Fische. Etwa 78 Gramm verputzt der kleine Sänger täglich – mehr als sein eigenes Körpergewicht. Sind die Jungen geschlüpft, dauert es nur noch etwa 20 Tage, bis sie das Nest verlassen. Zeitig nisten, zügig brüten, pfeilgeschwind jagen – so vergeht der Frühling.

Aber jetzt ist Februar. Vor zwei Jahren lag um diese Zeit noch wochenlang Schnee. Vielleicht hat der Winter nur eine Verschnaufpause eingelegt? Vielleicht lauert er hinter der nächsten Bachkrümmung in einem Baumwipfel, um uns mit einem eisigen Flockenschauer zu überraschen. Doch danach sieht es nicht aus. Augst und ich stapfen ungehindert unseres Weges. Der Schnee im Polenztal ist restlos weggeschmolzen, im Reich der Wasseramsel erinnern stellenweise bloß noch Matsch und kahle Zweige an die frostige Zeit. Draußen sind auf vielen Wiesen die Schneeglöckchen und Krokusse zum Vorschein gekommen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Hasel und Birke austreiben. Fast scheint es so, als ob die Wasseramsel die gesamte Natur mit ihrer Eile angesteckt hat.

Ulrich Augst
Ulrich Augst lauscht den Stimmen der Natur schon seit vielen Jahren. Am Ufer der Polenz hört man sie so klar wie kaum irgendwo sonst. (Foto: Hartmut Landgraf)

Die Winter werden immer kürzer

Im sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie beobachtet man solche Erscheinungen sehr genau. „Auf den ersten Blick ist daran nichts Ungewöhnliches“, sagt Andreas Völlings vom Klimareferat. „Auch früher hat es immer mal wieder einen zeitigen Frühlingsbeginn gegeben.“ Doch über längere Zeiträume ist ein neuer Trend erkennbar – die Vegetationsperiode verlängert sich. Im Herbst fallen die Blätter erst spät von den Bäumen und im Dezember zeigen sich mitunter schon wieder die ersten Blüten. Immer öfter lassen die Winter sehr lange auf sich warten und ziehen sich dann schnell wieder zurück. Harte, lange Frostperioden wie vor zwei Jahren gibt es immer seltener. In Sachsen wird es nachweislich wärmer. Im Jahresdurchschnitt sei die Temperatur seit 1960 um beinahe ein Grad Celsius angestiegen, sagt Völlings. Es wäre verwunderlich, wenn die Tierwelt darauf nicht reagiert.

Nebel überm Polenztal
Gespenstisch webt der Nebel in den Wäldern über dem Polenztal. Dieser Fleck gehört zum Schönsten und Natürlichsten, was die Sächsische Schweiz zu bieten hat. (Foto: Hartmut Landgraf)

Auch Ulrich Augst beobachtet einige Auffälligkeiten. Zugvögel, die in normalen Wintern weit nach Süden fliegen, bleiben mitunter länger als sonst in Mitteleuropa – manche ziehen in warmen Jahren überhaupt nicht mehr fort. 2014 war das wärmste Jahr seit Anbeginn der Temperaturaufzeichnung in Sachsen. Doch der Nationalparkmann kennt die Launen der Natur von seiner Arbeit draußen viel zu gut, um ihnen zu vertrauen und daraus Rückschlüsse zu ziehen. Mit der Wasseramsel im Polenztal sei jedenfalls alles so wie immer, sagt er. Sie sei früh dran, früher als manch anderer Vogel – aber eben nicht früher als sonst.

Einen Moment lang hocken wir beide schweigend am Bachufer und hören dem Wasser zu. Die Amsel ist fort. Graugrün sprudelt die Polenz über Steine und Blöcke, sammelt sich schäumend in tiefen Gumpen – spritzt und quirlt alsbald wieder daraus hervor, um mit befreiter Kraft zwischen Eichen, Erlen und Fichten singend von dannen zu ziehen. Wenn man sehr genau zuhört, wird man Teil dieser Melodie. Es ist, als ob gleichsam innen und außen ein Bach rauscht. Die Zeit kommt zum Stillstand, und mit seiner duftigen, wunderbaren Kraft tritt das Jetzt ins Bewusstsein – das Leben. Und der Frühling.

Die dänische Internetseite birding.dk hat eine Vielzahl von Vogelstimmen gesammelt und als mp3 zum Anhören bereitgestellt – ein absolutes Muss für Vogelfreunde. Unter der Rubrik „Galleri“ findet ihr eine dreisprachige Übersicht, geordnet nach Lebensraum und Gattung.

Unter dem Serien-Titel „Abenteuer Natur“ erscheinen bei Sandsteinblogger.de ab sofort in loser Folge Reportagen aus der heimischen Tier- und Pflanzenwelt der Sächsischen Schweiz.

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